ACHT

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Jason
Zufrieden blickte ich auf die Packung Kekse, welche ich aufgrund ihres überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatums in der Mülltonne gefunden hatte.
Ich steckte sie in die Tasche meines alten, aber gewaschenen Pullis, da ich den neuen für das Wiedersehen mit Rachel aufhielt, und schritt eilig über einen kleinen Platz, den Menschen ausweichend.
Ich bemerkte ein paar verachtende Seitenblicke von einer Gruppe Jugendlicher. Ein paar dumpfe Worte drangen zu mir.
"Seht ihr den kleinen Penner? Hab' den schon öfters gesehen, schnüffelt immer herum..."
Mehr verstand ich nicht, doch nach den feindseligen Blicken zu urteilen, sahen sie so aus, als würden sie mich liebend gern aus der Gesellschaft verbannen.
Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Bauch, wie gern ich doch wieder ein normaler Junge wäre, wie sie. Doch ich konnte nichts daran ändern, ein stinkender Straßenjunge zu sein, den jeder verachtet.
In Gedanken versunken, bog ich in eine feuchte Seitengasse ein und näherte mich dem sanften Rauschen der Elbe.
Nach einer Biegung erblickte ich das beruhigende Wasser, welches sich einen Weg durch das Land bahnte. An seinen Ufer spazierte ich ein wenig entlang, bis ich an einen schmalen Zufluss gelangte.
Diesen folgte ich und gelangte an einen immer abgelegeneren Teil der Stadt.
Als ich eine schmale Brücke erreichte näherte ich mich ihr und stieg hinunter ans Flussbett unter der Brücke.
Eine in vielen Decken einghüllte Gestalt kauerte dort. Ein leises, aber drohendes Knurren vernahm ich, als ich mich auf ihr zubewegte.
"Ey Arthur, alter Junge, erkennst du mich nicht mehr?", beruhigte ich den braun-schwarzen Hund, der sich vorsichtig näherte, als er mich jedoch erkannt hatte, freudig auf mich zu tapste.
Ich tätschelte ihn ein wenig, dann kehrte das Tier zurück zu der Gestalt, die sich gerade umdrehte und sich das Gesicht eines Mannes zeigte.
In dessen braunen Augen spiegelte sich ein Leben voller Leid und Tiefen wieder. Seine leichten Falten unterstrichen diesen Ausdruck, obwohl er noch nicht sehr alt war. Sein ungepflegter, langer Bart vermischte sich mit den Haaren. Beide waren von einem matten Braun, durchzogen von grauen Strähnen.
Bei meinem Anblick verließ der Harte Ausdruck seine Auge und stattdessen legte sich ein freudiges Lächeln auf seinen rissigen Lippen.
"Hab mich schon gefragt wenn du mich mal wieder besuchen kommst, Jason", ertönte eine unerwartet klare Stimme.
"Geht's die gut, Thorben?", fragte ich, während ich mich neben den Mann niederließ, welcher sich aufgesetzt hatte.
"Abgesehen von ein paar Schrammen, geht's mir verhältnismäßig gut", antwortete Thorben.
"Ich hab' hier was für dich", sagte ich ohne Umschweife und holte die Kekse heraus.
Schweigend aßen wir sie, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Thorsten hatte ich ein paar Wochen nach dem Beginn meines Straßenlebens kennengelernt. Er hatte mich hungernd und krank gefunden und hatte mich, so gut es eben auf der Straße ging wieder auf die Beine gebracht.
Damals war mir mein neues Leben auf der Straße fremd, ich hatte nicht gewusst, wie ich zurecht kommen sollte. Thorsten zeigte mir ein paar Überlebenstricks, brachte mir das ein oder andere bei und war mein Mentor und Freund.
Nach einem Jahr trennten wir uns, auf der Straße war es besser auf sich allein gestellt zu sein, es war so oder so schwer sich selbst zu ernähren. Außerdem würde man besser klar kommen, falls jemanden etwas passieren würde und man auf sich allein gestellt war.
Trotzdem besuchte ich ihn jede Woche, denn auch ich wollte manchmal mit jemanden reden, ohne mit Verachtung oder Mitleid behandelt zu werden.
Er selbst lebte nun schon seit fünf Jahren auf der Straße. Alles begann, als seine Frau sich scheiden gelassen hatte und die Hälfte seines hart erarbeiteten Geldes mit sich genommen hatte. Von da an war es bei ihm stark bergab gegangen. Der Alkohol verführte und tröstete ihn in seiner Trauer, bis er sich schließlich die Miete nicht mehr leisten konnte.
Er landete auf der Straße.
Doch seine Sucht ging weiter. Erst als ihn Arthur zugelaufen kam, und er von da an sein Leben mit einem Vierbeiner teilte, konnte er seine Alkoholsucht in Schach halten.
Ich blickte mich unter der Brücke um. Der leise Fluss plätscherte an uns vorbei. Und die Blätter der Weiden auf der anderen Seite des Ufers bewegten sich zum Wind, doch kein Lüftchen gelang zu uns.
Die Brücke war erstaunlich winddicht.
An unserer Seite der inneren Brückenmauer öffnete sich ein zugegitterter Schacht, welcher zu einem oben liegenden Restaurant führte. Von dort strömte meist warme Luft aus der Küche hinaus, die dort als Lüftung und Abkühlung diente.
Dies war ein Segen für Thorsten. So wurde er im Winter vor dem Erfrieren bewahrt.
Nur bei Regen musste er aufpassen. Falls das Wasser des kleinen Flusses sein Flussbett verließ, war er gezwungen für kurze Zeit umziehen. Meist suchte er Schutz bei mir.
Nachdem alles aufgegessen war und die übriggebliebenen Krümel von Arthur aufgeleckt, fragte mich Thorsten:
"Und, steht für die nächste Zeit etwas bei dir an?"
Ich dachte an Rachel und plötzlich überkam mich Sorge für Thorsten. Falls Rachel mich wirklich wiedererkennen würde oder mir Glauben schenkt, würde sie mich vom Straßenleben befreien und mich bei ihr und ihrer Familie aufnehmen.
Doch, wenn es überhaupt dazu kommen würde, was würde mit Thorsten geschehen?
Abgesehen von Arthur hatte er außer mir niemanden. Obwohl er älter war und mich in vieles übertraf, fühlte ich mich verantwortlich.
Eigentlich wollten wir dieses Gefühl von Verantwortung durch unser getrenntes Leben vermeiden, doch trotzdem fühlte ich mich betroffen als ich ihn von meiner Schwester und meinen Plan berichtete.
Er jedoch reagierte erfreut und wünschte mir Glück.
"Wann wirst du sie sehen?", fragte er interessiert.
"Am Samstag, also in zwei Tagen", antwortete ich.
"Kommst du mich trotzdem hin und wieder besuchen?", etwas Unsicher schaute Thorsten mich an.
"Natürlich, wenn es überhaupt klappt..."
Unbehagen breitete sich in mir aus, als ich daran dachte, was wäre wenn Rachel mir nicht glaubte.
"Sie wird dich sicher wiedererkennen und mach dir mal nicht so viel Sorgen um mich", versuchte Thorsten mich zu beruhigen, "ich werde schon zurechtkommen."
Ich nickte leicht.
Wir redeten noch ein wenig. Bald wurde es kühler und die Sonne bewegte sich auf den Horizont zu.
So machte ich mich auf den Weg nach Hause. Auf halbem Weg bemerkte ich, während ich einen kleinen, leeren Park durchschritt, ein paar Gestalten.
Nach ihren lallenden Lauten zu Urteilen waren es drei bis vier betrunkene, junge Kerle.
Den Kopf nach unten schritt ich schnellen Schrittes an ihnen vorbei, so unauffällig wie möglich.
"Na wen hab'n wir denn da? Wieder der kleine Penner?"
Zuckend ging ich schneller, den Ausgang des Parks im Blick. Das waren wahrscheinlich die Jungs von heute Nachmittag.
"Eyy, wo willst'n hin? Wieder in dein kleines Loch, hoff' ich."
Die anderen lachten dunkel.
Schwere Schritte vernahm ich hinter mir. Plötzlich legten sich fleischige Finger um meinen Nacken.
Ohne zu zögern drehte ich mich um, dadurch lockerte sich der schwere Griff, dann knallte meine geballte Faust in die Magengrube meines Gegenübers.
Dieser keuchte überrascht auf und taumelte nach hinten.
Ich rannte los, doch die übrigen waren schon längst bei uns angekommen und in ihren Augen zeichnete sich ein feindseliges Glitzern ab. Zwischen zwei der Jugendlichen vernahm ich eine Lücke.
Ich lief auf diese zu und war schon fast durch, als einer seinen Fuß stellte und ich verzweifelt darübersrolperte.
Mein Gesicht landete im Schlamm. Ein paar kleine spitze Steine bohrten sich in meine Wange. Jemand packte mich am Arm um mich am Weglaufen zu hindern.
"Gute Arbeit, Mark. Erteil' ihn jetzt 'ne Lektion", ertönte die immer noch gepresste Stimme, des Jungen den ich geschlagen habe.
Wahrscheinlich der Anführer. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der über mir, Mark, zu einen Fußtritt ansetzte.
Ich bereitete mich auf den Schmerz vor.
Dann der Tritt. Er war nicht fest, nur ein leichtes Pochen an den Rippen hinterließ er. "Fester, oder haste' etwa Mitleid mit dem reudigen Köter?", schrie der Anführer.
Die übrigen feuerten Mark an. Er zögerte kurz.
Plötzlich dachte ich an Rachel und Hoffnung durchströmte mich und gab mir Kraft.
Ich packte ihn an den Beinen und zog ihm den Boden unter die Füße weg.
Er fiel.
Die anderen reagierten zu langsam, ob wegen ihrer Überraschung oder wegen des Rausches. Ich konnte fliehen.
Heute hatte ich, wie so viele andere Male Glück gehabt, doch wie lange würde es noch anhalten? Nur noch bis Samstag, bat ich meinen Schutzengel und blickte in dem Himmel, wo ich gerade den Nordstern entdeckte.

Der Straßenjunge, der behauptete mein Bruder zu seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt