9. Kapitel

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Hicks POV:

Auch wenn Jack am liebsten sofort losfliegen würde, stimmt er mir wiederwillig zu, noch diesen Tag auszuruhen und erst morgen früh aufzubrechen. Ich vermute, der Hauptgrund dafür ist seine Angst davor, dass er sonst wieder auf Ohnezahns Rücken mitfliegen muss.

Als es Abend ist, sitzen wir gemeinsam am Strand. Über den Flammen des Lagerfeuers rösten einige Fische, die ich nachmittags gefangen habe. Einige Meter entfernt von uns liegt Ohnezahn im Sand und schlingt seinen Fischanteil roh herunter. Jack wirft ihm hin und wieder einen angewiderten Blick zu, wenn er besonders laut schlürft.

"Was hast du eigentlich gegen Drachen?", frage ich beiläufig.
"Oh, ich weiß nicht. Vielleicht, dass sie riesige, fleischfressende Echsen sind, die zu allem Übel auch noch messerscharfe Krallen und Zähne und Flügel haben, dank denen sie ihre Opfer nicht nur auf dem Boden, sondern auch in der Luft jagen können?", antwortet er sarkastisch.
"Schon klar. Aber für gewöhnlich jagen Drachen keine Menschen, sie werden nur aggressiv, wenn sie sich erschrecken oder sich verteidigen müssen. Drachen sind friedliche Tiere, auch wenn sie gefährlich sind. Bären oder Wölfe sind ein viel größeres Übel, auch wenn sie im Vergleich zu Drachen weniger gefährlich aussehen", gebe ich zu bedenken.
Jacks Blick huscht kurz zu mir und dann wieder zum Feuer.
"Vielleicht da, wo du herkommst, Hicks. Aber nicht alle Drachen sind friedlich..."
Seine Stimme bricht, und er schweigt. Die Stille, bevor er weiterspricht, kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
"Als ich noch ein kleiner Junge war, wurde unser Dorf von einem Drachen angegriffen. Einem Nachtschatten. Ich erinnere mich noch daran, dass wir an dem Tag ein Fest gefeiert haben. Abends wurden mehrere Schafe geschlachtet und gegrillt... der Geruch des Fleisches muss ihn angelockt haben, das dachte ich damals. Aber er hat nichts von dem Fleisch genommen. In einem Moment war alles friedlich, und dann, plötzlich, war er da, und alles stand in Flammen."
Er schluckt, und ich spüre, wie schwer ihm das Erzählen fällt. Meine Hand tastet nach seiner. Er zuckt überrascht zusammen, lässt dann aber zu, dass ich meine Finger mit seinen verschränke.

„Da war so viel Lärm und Chaos. Alle haben geschrien, ich konnte nicht mehr richtig atmen und mich auch nicht bewegen. Meine Mutter hat mich gerettet. Sie nahm mich an die Hand, auf dem anderen Arm hatte sie Jamie. Er war damals noch ein Baby. Sie rannte mit uns zum See, der ganz in der Nähe des Dorfes war. Es war der einzige Ort, der noch nicht in Flammen stand. Wir betraten das Eis und ich dachte schon, wir sind endlich in Sicherheit. Wir hatten den See schon zur Hälfte überquert, da hörte ich auf einmal ein lautes Knacken, und für einige Sekunden stand alles still. Dann brach das Eis unter unseren Füßen, und wir stürzten ins Wasser. Es war eiskalt und dunkel, und ich wusste... ich wusste, dass wir sterben würden."

Ich streichele mit dem Daumen über seine Handfläche.
„Aber du bist nicht gestorben", sage ich sanft.
Er schüttelt den Kopf und lächelt traurig. „Nein. Auch wenn ich mich noch heute frage, wie das möglich ist.
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich mit Jamie im Arm neben der Bruchstelle im Eis liege und jemand aus dem Dorf zu uns aufs Eis kommt, um uns dort wegzuholen. Von meiner Mutter fehlte jede Spur. Ich glaube, sie hat uns aus dem Wasser gehoben, hat es aber selbst nicht geschafft, sich herauszuziehen – das ist zumindest die plausibelste Erklärung, die ich dafür habe, dass wir leben.
Nach diesem Tag... es war nie wieder so, wie es vor dem Angriff des Drachen war. Alles war verbrannt, unsere Häuser, unser gesamter Besitz. Das Dorf war nur noch Asche, ebenso wie viele Dorfbewohner. Darunter auch mein Vater. Ich stand in dieser klebrigen, schwarzen Ascheschicht, die alles bedeckte, starrte auf die grauen Knochen, die an einigen Stellen herausstachen, und fragte mich, welche wohl seine waren. Letzten Endes spielte es keine Rolle, denn wir begruben sie alle zusammen in einem einzigen, großen Grab. Von keinem der Toten war mehr übrig als die Knochen, und so konnte auch keiner identifiziert werden. Als das Grab geschlossen war, taten sich alle Überlebenden zusammen und zogen weiter. Der Mann, der Jamie und mich auf dem Eis geholt hatte, nahm uns in seine Familie auf, also in das, was davon noch übrig war. Wir bauten unser neues Heim an einem Ort, weit entfernt von dem alten Dorf... und doch schien uns die Asche zu verfolgen. Irgendwann löste sie sich von unserer Haut und unserer Kleidung, aber im Geist sehe ich sie noch heute vor mir. Seit diesem Tag habe ich Alpträume, Hicks, von Asche und Feuer und Drachen, und jedes Mal, wenn ich Jamie sehe, denke ich daran, wie klein er damals war, als unsere Eltern starben und wir plötzlich ganz allein auf der Welt waren... und das alles wegen einem Drachen."
Er sieht mich ernst an, seine blauen Augen schimmern. „Jetzt weißt du, wieso ich keine Drachen mag." 

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nein. Ich kann nichts sagen. Wie könnte ich auch nach allem, was er gerade erzählt hat? Ich bereue es, diese dumme Frage gestellt zu haben.
Jetzt weiß ich, was er sieht, wenn er Ohnezahn anschaut. Wie schrecklich der Sturz ins Wasser vorhin für ihn gewesen sein muss. Und warum er so sehr darum kämpft, seinen Bruder Jamie wiederzufinden. Den einzigen Teil seiner Familie, der noch am Leben ist.
Ohne nachzudenken überbrücke ich die Entfernung zwischen und ziehe ihn in eine Umarmung. Im ersten Moment ist er wie versteinert, doch dann sinkt sein Kopf gegen meinen Hals und seine Hände schließen sich um meine Taille. Ich streiche ihm über den Rücken und durch die Haare und spüre, wie mein Hemd an der Schulter feucht wird.

„Es tut mir so leid, was dir passiert ist, Jack", flüstere ich. „Es tut mir so leid."


An diesem Abend stellte ich mir Jack als kleinen Jungen vor, wie er die Flammen sah, die seine Heimat verschlang, und das Bild verfolgte mich bis in meine Träume.

Ich wusste noch nicht, dass dieses Bild sich auch mir bald bieten würde.
Und trotz der Alpträume, die mich in dieser Nacht plagten, wurde es die ruhigste Nacht, die ich für eine lange Zeit lang haben würde.


Hey Leute!
Erst einmal: Vielen Dank für 700 Reads <3 
Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute meine Geschichte lesen würden, schon gar nicht nach gerade mal 2 Monaten. 
Tut mir leid, dass ihr so lange auf das neue Kapitel warten musstet.
Ich hoffe, es gefällt euch, auch wenn es etwas düster ist. 

Schöne Sommerferien euch allen! :)


Winter (Hijack FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt