Chloé und der Hunger

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AN//: Für meine Chloé Es tut mir so leid

Ja, sag mir, kannte ich dich? Kannte ich dich je wirklich?
Und ist es zu spät dich kennen zu lernen?
Denn es fällt einem immer erst auf wenn es zu spät ist, ist es nicht so?

Tag ein Tag aus bleibt immer weniger von dir. Tag ein Tag aus schaue ich zu wie du Unter meinen Armen verschwindest, aber ich sehe es nicht wirklich. Oder will ich es einfach nicht sehen? Ich umarme Knochen. Oder halte ich sie bloß zusammen, um den Zerfall zu verhindern? Oder nur zu verzögern. Aber nichts ist so wie es scheint, ist es nicht so? Ist es nicht immer so?

Und wenn es immer so ist, wieso fiel es mir nicht früher auf? Warum habe ich nicht danach gesucht? Du willst essen! Du willst doch essen?
Hast du Hunger, Chloé?

Und ich sehe deine Beine, die sich nicht mehr berühren, die Knie, die zu groß erscheinen. Und auch die straffe Haut an deinen Wangen. Verzeih mir, dass ich es mir so taktlos zu sagen erlaube, aber ich weiß jetzt wie ein Menschliches Skelett aussieht. Fast. Und du hast Haare an Stellen, die vorher glatt waren und dort wo sie vorher waren, fallen sie aus. Die Hände rot, lila und dann blau. Dir ist immer kalt und so siehst du auch aus.
Hast du keinen Hunger, Chloé?

Liegst du nachts nicht im Bett und wälzt dich vor Hunger? Hast du morgens die Energie aufzustehen? Siehst du die transparente Haut um deine dunklen Augenhöhlen? Was sagst du zu deinem Magen wenn er dich um Gnade anfleht? Welche Ausrede findest du heute? Finde ich heute? Und was beschließen wir zu glauben?

Sie ist so dünn.
Das ist genetisch.
Sie ist im Krankenhaus.
Das ist zu schneller Stoffwechsel.
Sie nimmt nicht zu.
Das ist Stressbedingt.
Glaubst du mir?

Und sie erzählt ständig vom Essen. So viel, dass man glaubt sie isst. Und vielleicht glaubt sie es auch. Ich hab nie Hunger in der Schule. Ich fress zu Haus die ganze Zeit. Ich ess mehr als meine Schwester!
Wie fühlt es sich an?
Wie fühlt es sich an?
Was soll ich sagen?

Und im Nachhinein steht sie vor dem Regal, sie holt eine Brezel. Ich hol eine Quarktasche und ein Käsebrötchen und ein Schokocroissant. Und ich schaue auf ihre Brezel. Ich sollte was sagen. Soll ich was sagen?

Und das tu ich. Nur ein bisschen. Ich will nicht zu weit gehen. Aber es klingt plausibel. Die Ausrede. In meinen Ohren.
Es wäre einfacher, wenn sie schreien würde, wann immer sie mich braucht. Ich kann sie ja zu nichts zwingen. Ich will ihr die scheiss Brezel persönlich in den Rachen stopfen und zusehen wie sie verdaut wird. Ich will sichergehen, dass sie verwertet wird. Dass sie in Form von Muskeln und Fett dort hinkommt, wo sie so dringend gebraucht wird. Iss sie, die scheiss Brezel! Iss tausend Brezeln, iss sie alle! Iss auch meine mit! Füll die Lücken. Bitte.
Bitte schrei doch!

Winke mir, bis ich dich sehe. Schüttel mich, bis ich dir zuhöre. Scheiss auf mich, scheiss auf alle, die dir Hilfe verweigern. Weißt du dass du Hilfe brauchst?
Ich will dir helfen, aber nur mein Wille hilft nicht. Ich brauche dich um dir zu helfen. Bitte, Chloé, schrei doch mal!

Es tut mir leid.
Dass ich dir glaube.
Es tut mir leid.
Dass mir die Worte fehlen.
Und der Verstand.
Und der Mut.
Es tut mit leid.
Dass du keine Zeit hast.
Und dass ich sie dir nehme.
Und dass ich hilflos bin.
Oder mich so fühle.
Es tut mir so leid.
Dass meine Tränen dir nicht helfen.
Dass ich keinen Finger krümme, außer zum Schreiben deiner Geschichte.
Oder eher meiner Version davon.
Es tut mir leid, Chloé.
Dass ich dich an- aber nicht durchschaue.
Es tut mir leid.
Dass ich nicht zuhören kann, wenn du in einer Sprache flüsterst, die ich nicht verstehe.
Es tut mir leid.
Dass ich mir selbst verzeihen kann.
Dass es mir so leicht fällt.
Es tut mir leid.
Dass ich keine Gute Freundin bin.
Es kümmert mich. Das tut es wirklich.
Aber scheinbar nicht genug.
Denn dann würde ich was sagen.
Und es tut mir so leid, dass ich stumm bin.
Aber Worte können dir wohl kaum helfen.

Du zerfällst in meinen Armen. Es gibt immer weniger von dir. Immer weniger von dir, das ich umarmen kann. Dein Kopf ist zu groß für deinen Hals. Meine Finger kann ich um mein Handgelenk schließen. Meine Finger kann ich um deinen Oberarm schließen. Wenn das so weitergeht, bestimmt irgendwann auch um deine Taille.
Blasse Augen. Du bist ein Geist.

Ich könnt für dich zu Fuß zum Mond und ich würd für dich Pi auswendig lernen.
Aber meinen verdammen Mund krieg ich nicht für dich auf. Warum? Warum kann ich dir nichts sagen? Warum? Warum hast du keinen Hunger, Chloé?

Ein Stück HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt