11➳ Die verbannte Sternschnuppe

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2015

Üsküdar|Istanbul
{3 Jahre zuvor}

Arzu

𝕰s war einmal vor langer langer Zeit eine einsame Frau, die verloren, müde und am Ende ihrer Kräfte unmittelbar davor stand sich in eine Brandung zu stürzen und ihrem Leben einen entscheiden Punkt zu setzen. Kein Komma, kein Semikolon, sondern ein knallharter und besiegelnder Punkt sollte es werden, der sich ihr Herz als Zielscheibe vorgenommen hatte. Geschickt balancierte sie auf einem dünnen Seil über das Universum und versuchte wie in einem Zirkusspektakel das Gleichgewicht herzustellen, indem sie auf der Kugel, die die Erde darstellen sollte, einen geraden Stand einnahm. Vorsichtig stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihre Finger nach den Eingangstoren des Paradieses auszustrecken, gleichzeitig ihre Füße bereits von den Flammen des Höllenfeuers unter ihr in Gewahrsam genommen wurden.

Sie hatte Hoffnungen, viel zu große, unnahbare Hoffnungen, an denen sie hielt, trotz dass sie die Kälte der Schlucht unterhalb ihrer Hüften und an ihre zitternden Beinen hinaufkriechen spürte.

Nichtsdestotrotz bekam sie von einem starken Willen gepackt die eisernen Metallstangen der Gittertore des Paradieses zu erfassen, sodass sie im nächsten Augenblick die Zähne zusammenbiss und die schmerzhaften Verbrennungen ihrer Füße gekonnt zu ignorieren begann. Die Höllenqual, die sie durchlitt, all die Minuten, all die Stunden, all die Tage über ließ sie außer Acht und kämpfte bis zum bitteren Ende. Sie schrie nicht, gab keinen Mucks von sich, kein Anzeichen von Schmerz und Kapitulation.

Der Sieg war zum Greifen nah... aber heute, ja genau heute obsiegte das Höllenbiest in ihr. Unerwartet streckte die Finsternis die Hand nach ihr aus und zog sie unbarmherzig mit einem Ruck runter. So sehr sie sich auch wandte, so sehr sie auch nicht bereit dazu war aufzugeben, wusste sie doch tief in ihr, dass sie nicht mehr gewinnen konnte. Und bevor sie überhaupt noch einen erstickten Schrei der Frustration nach außen stoßen konnte, stolperte sie nach hinten und damit in die lodernden Flammen der Hölle.

Sie fiel vom Himmel herab - anfangs noch recht sanft und liebevoll von den Wolken getragen, bis auch sie ihre schützenden Hände von ihrem Körper nahmen und sie wie eine Sternschnuppe hinabgleiten ließen. Sie wurde degradiert, wurde bis zur Lebenszeit von ihrem Platz am idyllischen Nachthimmel verwiesen.

Die Ruhe, die sie trotz dieses bitterlichen Kampfes konstant eingehalten hatte, wurde just durch den Fall unterbrochen. Mit einem lauten schmerzvollen Schluchzen mitten in der Nacht machte sie alles zunichte.

Dieser eine Schrei nämlich rief die Kollision beider Dimensionen hervor und verwischte die gezogene Trennlinie zwischen Himmel und Hölle, sodass sie einander übergingen.

Und das alles nur durch eine markerschütternder Schrei.

Meinem Schrei.

Völlig neben der Spur und mit zitternden Knien landete ich mit voller Wucht auf dem kalten Bordstein. Ich erhob mich wie paralysiert und schob immer kraftloser und absolut unnachgiebig meine Füße voran, obwohl meine bebende Silhouette klare Anzeichen gab, dass ich heute eindeutig mein Limit überschritten hatte und jeden Moment zusammenbrechen würde.

Doch das war für mich irrelevant. Denn ich hatte mich entschieden.
Ich hatte mich endgültig am Fegefeuer verbrennen lassen.

Im nächsten Moment schallte mein erneutes Schluchzen, wie die ersten dramatischen Klänge eines Symphonieorchesters in meinen Ohren wider und mein daraufhin nicht mehr zu unterdrückender Schrei ließ mich mit der Nacht eins werden. Kurz darauf bekam ich erneut das furchtbare Brennen meiner Knie auf dem Asphalt zu spüren, dessen harter Boden die obere Hautschicht an meinen nackten Knien aufriss.

ℬinbir Gece🌙Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt