6➳ Wiedersehen

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Arzu

»𝕹un beeil dich doch gefälligst !« Bereits als die ersten schrillen Töne zu mir runter schalten, bereute ich meine zuvor getroffene Entscheidung meine Cousine mitgenommen zu haben. Dass sie mir zusätzlich Stress machte, ließ die Warteschlange vor uns auch nicht kürzer werden, weshalb ich das Brot in meiner Hand auf das Fließband ablegte und mich in einem kompromissvollen Ton zu ihr wandte.

»Ceyda wie du sehen kannst, sind einige Menschen vor uns an der Reihe. Keine Sorge, wir werden ganz bestimmt rechtzeitig zum Frühstück erscheinen. Tante wird schon nichts dazu sagen.« Ein aufmunterndes Lächeln meinerseits, veranlasste sie dazu ihr kantiges Gesicht noch härter wirken zu lassen, indem sie bei meiner Aussage die Lippen zu einer schmalen Linie verzog und ihr Kinn nach vorne schob.

Ungeduldig zappelte sie von einem Bein auf den anderen. Ich jedoch hatte nicht im geringsten vor mich von ihrer Unruhe aus der Fassung bringen zu lassen, weshalb ich ihr nochmal herzlich zulächelte.

Die 20-jährige Studentin warf die kurzen Strähnen ihres nach vorne länger verlaufenden Bobs zur Seite und deutete mit ihrem stechenden Blick auf die ältere Dame mit dem Kopftuch vor uns, die sich durch einen Gehstock Halt gewährte, und brachte dadurch zu Ausdruck, dass ihr die Lage gänzlich missfiel, ehe sie näher zu mir rückte und mir leise zuzischte:

»Musstest du ihr denn den Vortritt lassen ? Schau doch Mal wie viel sie eingekauft hat !« Ihr zorniger Blick, der sich auf das Fließwand, auf dem die Waren der Dame standen, gerichtet hatte, ließ keine Zweifel daran, dass die Teufelsbrut in ihr tobte.

Mir war Ceydas ungestüme arrogante Art zwar nicht wirklich neu, da sie immerzu von ihren Eltern und dem Rest ihres Familienclans bevormundet und auf Samthandschuhen getragen wurde, doch wieder einmal stellte ich mir mit Erschrecken die Frage, ob dieses Mädchen vor mir, die so gemein klang, auch wirklich Medizin studierte. Ich konnte die Universität nicht besuchen. Nach dem Tod von Vater war mir nicht viel an Vermögen übrig geblieben, da wir gewöhnliche Bürger waren und dementsprechend keinen wertvollen Besitz besaßen. Als ich dann in die Obhut der Schwester meines Vaters kam, hatten auch sie mir diese Weiterbildung nicht gewähren können, schließlich hatten sie Ceyda, die fast so alt war wie ich und ihren vier Jahre jüngeren Bruder. Ich hatte es ihnen nicht übel genommen und hatte mich währenddessen einem normalen Job gewidmet. Auch wenn es nicht in meine Wunschkategorie gehörte, wie die irgendwann einmal Architektur zu studieren, war ich insgeheim doch froh darüber im großen Istanbul überhaupt eine Stelle als Kellnerin gefunden zu haben.

Denn auf eine Universität zu gehen bedeutete nicht alles. Ich leugnete es nicht, dass es mein Traum war, aber je länger ich mir Ceyda vor Augen hielt, desto mehr fragte ich mich, was mir wichtiger war. Mein Status oder meine Menschlichkeit ? Unterstellen wollte ich ihr zwar nichts, aber ihre Unifreundinnen, die des Öfteren zum Lernen vorbeikamen, waren von ihren Verhaltensweisen her nicht anders gestrickt. Zudem behandelten sie mich wie Luft oder kommandierten mich herum, als wäre ich eine einfache Küchenmagd und das lediglich aus dem banalen Grund, dass ich mit meinem Abschluss noch nichts Gescheites gemacht hatte.

Anstatt zu einem Roboter zu mutieren und mich für jemand besser zu halten, schlug ich mich lieber auf diese Seite des harten Lebens. Nachdenklich auf den Print des Kopftuches der alten Dame vor mir starrend, hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir nun die Nächsten an der Reihe waren.

Nachdem ich erneut das Rumgemecker von Ceyda neben mir ignoriert und bezahlt hatte, hatten wir den Laden verlassen und liefen die geschlossene Stadt von Beyoğlu entlang. Verkäufer von allen Seiten warben für sich, versuchten Einheimische als auch, Touristen durch verschiedenste orientalische Gewürze, exotische Früchte, nährende Öle oder durch ihre farbenfrohe Tülle anzulocken. Mir gefiel es, dass die Stadt so kunterbunt und trotzdem gleichermaßen so voller Lebensfreude war. Ich bevorzugte zwar die Stille, aber in einer Stadt wie Istanbul war der ganze Tag voller Ereignisse. Nichts nur das Nachtleben war für sich berüchtigt, sondern auch der Tag hatte viele Vorzüge zu bieten.

ℬinbir Gece🌙Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt