9➳ Das trügerische Märchenbild

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Arzu

𝕸it acht Jahren fing es an, dass ich mich mit Leib und Seele dem Glauben einer wundersamen Märchenwelt hingab, denn in diesem Alter hatte Papa mir zum ersten Mal beim zu Bett gehen ein Märchen vorgelesen. Eine wunderschöne, kleine Geschichte, die die schimmernden Funken der Hoffnung meines naiven kindlichen Ich's entfachteten und sie in dieser utopischen Lügengeschichte abgesetzten.

Ich lebte in der festen Einstellung, dass sie existierten, dass es diese schönen Märchen auch im echten Leben gab und überall da, wo eine reine bedingungslose Liebe sich anbannte, die Herzen anfingen unkontrolliert im Takt der grenzenlosen Zuneigung zu schlagen und einsame Seelen die Suche nach ihren wahren Gefährten aufnahmen, ja genau da schrieb das Schicksal die ersten Zeilen eines neuen traumhaften Märchens nieder.

Doch jetzt, exakt in diesem Augenblick zersprang diese Illusion explosionsartig in lauter kleine Scherben. Die klaren Visionen, die eindeutigen Bilder, für mich geltender Tatsachen, fielen in eine finstere Grube, als fremde Hände mich umfingen und mir unbekannte Lippen sich auf die meine legten.

Ein Körper, der nicht seiner war, vereinte sich mit meinem und obwohl ich krampfhaft versucht hatte, mich dem hinzugeben, alles um mich herum währenddessen auszublenden, trat dieser Wille mit einem Mal in die Leere, als der aufleuchtende Ring an meinem Finger mich regelrecht verhöhnen wollend anfunkelte.

Schwächer gestimmt von dieser Scham, die mir die ganze Kraft aus dem Körper saugte, die ich gerade jetzt benötigte, griff ich instinktiv dem nicht Stand halten könnend, fester in seinen bemerkenswerten breiten Rücken, derweilen er sich unkontrolliert seiner Begierde hingab.

Blind von den einzelnen Tränen, die meine Sicht schleierhaft benebelten, als ich wie hypnotisiert auf die Decke der Suite blickte, waren seine Stöße in mir, sein ungleichmäßiges Keuchen, das sich dicht an meinem Ohr abspielte das Einzige, was mich immer wieder daran erinnerte, dass ich noch hier war. Lebendig, auf dieser Welt verweilte und der bitterlichen Realität zum Fraß ausgesetzt war.

Als das Keuchen ununterdrückbar seinerseits lauter wurde und auch ich die leichte Nässe in mir herausgleiten spürte, da wurden meine inneren aufrecht erhaltenen Kriegsschiffe durch die starke Flutwelle meiner aus dem Augenwinkel runter gleitenden Tränen in Beschlag genommen, ehe sie dadurch einen Schiffbruch dargelegten und versanken, so wie ich es tat.

»Arzu..«, flüsterte er liebkosend und ergeben meinen Namen. Aus dem bloßen dunklen Klang seiner Stimme erkannte ich, dass er nun kurz davor war seine komplett Zurückhaltung abzulegen, sich ohne wenn und aber in mir zu verlieren, indem er auch hier nach einer Einverständnis meinerseits lechzte. Ich musste antworten, doch ich konnte nur auf den Ring starren, der sich plötzlich so schwer an meinen Ringfinger fühlte.

Verurteilend...
Demütigend und so voller Scham, stellte der Ring sich in mein Blickfeld, sodass es meine tief in Herzen sitzende gut behütete, bevormundete Ehre zerbrach. Meine Unterlippe bebte, als die negative Energie dieses Ringes auf mich einströmte und meinen bereits ungesunden Gemütszustand weiter anstachelte.

Ich liebte diesen Ring. Ich hatte ihn ab dem Augenblick an, als er ihn mir an den Finger angelegt hatte geliebt, doch nun... Nun würde ich es nie wieder mit dem Stolz und der Liebe anblicken können, ohne dass mir meine Sünde entgegen reflektiert werden würde. Nie wieder.

Tränen der Schuld, Tränen der Trauer und insbesondere Tränen des Selbsthasses fällten das Urteil über mich, als sie mich mit der feuchten Spur auf meinem Gesicht quälend langsam brandmarkten. Trotz des schweren Körpers über mir, fing ich an zu zittern und ehe ich mich davon abhalten konnte, bannte sich ein Mark erschütterndes gequältes Schluchzen an, dass ich die ganze Zeit über zu unterdrücken versucht hatte.

ℬinbir Gece🌙Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt