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Maskengedanken

Die Mädchen aus meiner Klasse stehen auf der Sonnenblumenwiese und machen Bilder für Tumblr und Instagram.

Kerzengerade, wie jeden Morgen, lehnt Ridge Neumann an der Hausecke. Schwarze Kleidung im Hochsommer ist anscheinend nach wie vor sein Plan, die Welt zu retten. Dieser Blick, dieser ignorante missbilligende Blick. Den Jungen kümmert nichts. Er starrt zum Bus. Malou, sein elfjähriger Bruder hängt an seinem Arm und quengelt.

Ridge ist ein hoffnungsloser Fall.
Ich bin ein hoffnungsloser Fall.
Mein Blick fällt wieder auf die posierenden Sonnenblumen-Mädchen.
Sind wir nicht alle irgendwie hoffnungslose Fälle?

Malou und Ridge, unsere Nachbarn. Früher verstand ich mich gut mit ihnen. Bis Ridge ein arroganter Jahrgangsliebling wurde, der mich nicht einmal mehr ansah. Irgendetwas hatte sich verändert, irgendetwas in seinem Blick war mir fremd geworden.

Oft höre ich Schritte und sehe Schatten. Ist dieses Gefühl, beobachtet zu werden mein ständiger Begleiter geworden? Ich denke viel, schreibe alles auf, aber sage wenig, bin antisozial, habe eigene Ansichten, bin kein Teil der Mainstreamgesellschaft. Ich hasse angepasste Menschen, ich hasse die Masken, die Menschen zu tragen bekommen, wenn sie beliebt sein wollen, die Masken, die alle Menschen zu Kopien der Perfektion machen. Dabei ist Perfektion nicht erstrebenswert, sondern unerreichbar, tödlich und verkorkst. Niemand kümmert sich um sowas, außer ich. Meine Gedanken sind zu weit, als dass sie jemand begreifen könnte, ohne einen Wutausbruch über die Unsinnigkeit von Teenagerhirngespinsten zu bekommen. Deshalb sollte diese Gedanken niemals jemand finden. Sie sind gesichert hinter Schranktüren, Schubladen, Tresoren, Schließfächern, Zahlenschlössern und Falltüren.

In diesem Bus sind mir alle fremd. Fremd mit ihren Wünschen, fremd mit ihren Gedanken.

Klassenfahrten, zumindest die auf denen ich beteiligt war, enden immer damit, dass einer wegen Alkoholvergiftung im Krankenhaus landet. In diesem Fall ich. Die, die ihre Grenze nicht kennt. Die, die ihre Grenze nie kennt, auch mit ihren Gedanken nicht. Wie hatte man mit mir geschimpft, als ich dem Polizisten völlig aufgebracht von meinen Stalker Theorien erzählt hatte.

Im Krankenhaus ist es dunkel. Ein schemenhafter Schatten am Fenster. Dann die Deckenbeleuchtung, von ganz hinten das Licht, wie es immer weiter nach vorne klettert. Ich kneife meine Augen vor dem grellen Neonlicht zusammen, mein Herz klopft und droht zu zerspringen, als sich die Matratze senkt.

»Hallo Luca.« Es sind angsteinflößende Worte. Gänsehaut überall. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich vorsichtig meine Augen öffne. »Ridge?« Das Licht erlischt mit einem Mal und das Surren des Monitors neben mir fällt vollkommen aus. Sein Gesicht leuchtet im Mondlicht. »R-r-r-Ridge?« Ich bin eine Schisserin, habe Angst im Dunkeln, vor allem, wenn diese Dunkelheit beinhaltet, dass fucking Ridge mitten in der Nacht an meinem Krankenhausbett sitzt und mich durch die gefährlichen grünen Augen ansieht.

»Denkst du ich bin ein hoffnungsloser Fall?« Er betont jedes einzelne Wort und es geht mir unter die Haut. »D-d-du machst mir Angst.« »Angst?« Seine Grübchen lassen mich aufatmen. »Nur weil ich deine Gedanken kenne?« Ich reiße meine Augen weit auf, als ich alles realisiere. »Du bist der Stalker.« »Vielleicht.« Er grinst. »Vielleicht habe ich aber auch nur meinen Verdacht bestätigen wollen, dass in dir mehr steckt als das Mädchen, das über ihr Tagebuch gelehnt ist.« Er sieht mich an.

»Bitte Luca, hilf mir, meine Maske abzunehmen.«

WORTE AUS MEINEM KOPFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt