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Gefundene Gedanken

Für meine Klasse
- auch wenn ich erstmal dachte,
'ne Mädchenklasse sei kagge:
Ihr seid die Besten!

Kein Schnee. Die Vermisstenanzeige von Dad an der Straßenlaterne neben meinem Fenster liegt in einer Matschpfütze. Das Panzertape löst sich alle paar Tage, ich hänge die Anzeige heute Mittag wieder auf.

»Tschüss Lewis.« Dave schlägt mit seinem Bruder ein, welcher gekünstelt in seine Ellenbeuge hustet und den Schal enger um seinen dünnen Hals zieht. »Ach so ist das, die werten Herren stecken unter einer Decke.« Ich ziehe eine Augenbraue nach oben.

Schule schwänzen also.

»Weiter so, Dave.« Mein sarkastischer Unterton scheint ihn nicht besonders zu jucken, ich jucke ihn allgemein nicht besonders. Er ist ein hoffnungsloser Fall, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Sind wir denn nicht alle irgendwie hoffnungslose Fälle?

Lewis und Dave, die Söhne der besten Freundin meiner Mutter. Sind alle letzte Woche bei uns eingezogen. Ein paar Tage nach Dads Verschwinden, ich nenne es nicht wie jeder "der Vorfall", das klingt wie ein Versehen.

Ich glaube es war Mord.

Seitdem fühle ich mich, als hätte ich einen Stalker, oft höre ich Schritte und sehe Schatten. Ich schreibe alle Auffälligkeiten auf. Meine Gedanken sind gesichert hinter Schranktüren, Schubladen, Tresoren, Schließfächern, Zahlenschlössern und Falltüren.

Im Bus die typische Lehrersitzordnung: die Beliebten neben den Unbeliebten, Teenager, die nie etwas miteinander zu tun haben werden, kollidieren, oder zumindest ihre Knie bei jedem Schlagloch. »Cousin? Bruder? Halbbruder?« Ich ziehe meine Kopfhörer, von denen ich eigentlich dachte, sie wären Grund genug von niemanden der Spasten angesprochen zu werden, aus den Ohren und sehe Belle mit müdem Blick an. »Dave? Nichts davon, keine Biologie.« »Ach so ist das.« Sie lacht und wirft ihre blonde Mähne nach hinten. Sie ist in ihn verknallt, ich bin in ihn verknallt, jeder ist in ihn verknallt. In Dave konnte man nur verknallt sein, jeder war seiner Aura verfallen, das Geheimnisvolle, das Gefährliche.

Klassenfahrten, zumindest die auf denen ich beteiligt war, enden immer damit, dass einer wegen Alkoholvergiftung im Krankenhaus landet. In diesem Fall ich. Die, die ihre Grenze nicht kennt. Die, die ihre Grenze nie kennt, auch mit ihren Gedanken nicht. Wie hatte man mit mir geschimpft, als ich dem Polizisten völlig aufgebracht von meinen Mordtheorien erzählt hatte.

Dunkelheit. Ein schemenhafter Schatten am Fenster. Dann die Deckenbeleuchtung, von ganz hinten das Licht, wie es immer weiter nach vorne klettert. Ich kneife meine Augen zusammen, mein Herz klopft und droht zu zerspringen, als sich die Matratze senkt.

»Hallo Luca.« Es sind angsteinflößende Worte. Gänsehaut überall. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich vorsichtig meine Augen öffne. »Dave?« Das Licht erlischt und das Surren des Monitors neben mir fällt aus. Sein Gesicht leuchtet im Mondlicht. »D-d-d-Dave?« Ich bin eine Schisserin, habe Angst im Dunkeln, vor allem, wenn diese Dunkelheit beinhaltet, dass fucking Dave mitten in der Nacht an meinem Krankenhausbett sitzt und mich durch die gefährlichen grünen Augen ansieht. »Denkst du, ... ich bin krank?« Er betont jedes einzelne Wort und es geht mir unter die Haut. »D-d-du machst mir Angst.« »Angst?« Seine Grübchen lassen mich kurz aufatmen. Dann wird seine Miene zu Eis. »Die solltest du auch haben.« Seine Hand an meinem Kinn. Meine Lieder flattern.

»Ich habe deine Gedanken gefunden. Herzlich Willkommen, du bist mein nächstes Opfer.«

WORTE AUS MEINEM KOPFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt