Kapitel 1

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Der eisige Hauch des Winters lag in der Luft, schmiegte sich sanft an die Landschaft und formte kleine Wölkchen vor ihrem Mund.

Dennoch fror sie nicht, sondern genoss das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen und atmete die frische Luft, die der Tanz der Flocken mit sich brachte.

Schon immer liebte sie den Winter und sehnte sich jedes Jahr aufs Neue nach den weichen, in weiß getauchten Hügeln und den Besonderheiten dieser Zeit.

Verträumt schaute sie zu Boden und malte Muster in die Gebilde der Natur, ehe sie erschrocken hochfuhr und bemerkte, dass sich ihre ältere Schwester bereits ohne sie auf den Weg gemacht hatte.

»He! Warte auf mich Emba!«, rief Amelia und versuchte unmittelbar Anschluss zu finden.

Die viel zu großen Stiefel, in denen ihre zarten Füße steckten und die wie zwei Stelzen unter der dicken Jacke hervorlugten, erschwerten ihr Vorankommen, ließen sie einem stolpernden Ungetüm gleich durch den Schnee pflügen. Ihr rotes und struppiges Haar, das unter der warmen Mütze hervorquoll, flog im Wind und umspielte ihr Gesicht, daneben wirkte ihre Haut noch blasser als sonst.

Emba wandte kurz den Kopf in ihre Richtung und grinste auffordernd, umgriff die Schnur des Schlittens in ihrer Hand bedeutend fester.

»Wer zuerst am See ist!«

Augenblicklich beschleunigte Emba ihre Schritte und veranlasste Amelia dazu, ihr laut juchzend nachzulaufen und sie wenig später einzuholen.

»Ich schlage dich jedes Mal!«, lachte Amelia vergnügt und sprintete wie ein tollwütiger Ork an Emba vorbei.

»Kein Wunder, ich schleppe ja auch immer den ganzen Kram!«, rief ihre Schwester und zog das mit Schlittschuhen beladene Gefährt schneller hinter sich her.

Amelia rannte weiter die kleine Anhöhe zum See hinab, folgte dem niedergetrampelten Pfad, den die vielen Besucher in den letzten Tagen hinterlassen hatten.

Von hier oben sah es so aus, als wäre eine Schneise durch die Landschaft gezogen worden, eingebettet in eine Welt aus Schnee.

Der Frühling machte die herrliche Pracht jedoch zunehmend zunichte, riss aufgrund der steigenden Temperaturen unzählige kleine, grüne Löcher in die winterliche Idylle.

Auch das Eis wurde stetig dünner, bot vermutlich kaum mehr Gelegenheiten, bevor es zu gefährlich werden würde, um das gefrorene Gewässer unbeschadet zu betreten.

Amelia erreichte schnaufend das Ufer, hielt einen Moment inne und sah verträumt auf die riesige Fläche, die sich vor ihr erstreckte. Von einer kalten und faszinierenden Schönheit, die sie ein jedes Mal aufs Neue gefangen nahm.

Indessen schloss Emba zu ihr auf, trat an sie heran und gab ihr einen neckischen Stups in die Seite, stapfte sogleich los, um den Rand des Sees zu erreichen.

»Komm endlich oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

Amelia kam der Aufforderung nach und folgte ihr, nahm dankbar auf dem hölzernen Gefährt Platz und zog sich die Schlittschuhe an.

Wenig später erhob sie sich mit einem erwartungsvollen Seufzen und wackelte unbeholfen auf das Gewässer zu, denn die schmalen Kufen versanken im Schnee und der nicht sichtbare Untergrund tat sein Übriges.

Mühsam schaffte sie es auf das Eis und rutschte sogleich ein gutes Stück nach vorne, bevor sie sich ungeduldig nach Emba umsah.

Die war ebenfalls fertig, stand aber unschlüssig da und schaute auf den See.

Meeresrauschen (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt