Wie eilig es Mara offenbar hatte das Gewässer aufzusuchen, erfuhr Amelia bloß eine knappe Stunde später, als ihre Freundin ungeduldig in ihrer Tür stand und nicht wie vereinbart am See auf sie wartete.
»Na? Bereit deinem Schicksal zu begegnen?«
»Ach hör doch auf...«
Die Euphorie, die Mara ihr entgegenbrachte, konnte Amelia vorerst nicht teilen, vielmehr machten sich gewohnte Zweifel und eine ängstliche Beklommenheit in ihr breit. Eine Nervosität, die sie sonst nur von großen Prüfungen kannte, und die nun mit den Erwartungen einherging, die sie in den heutigen Ausflug setzte.
Zögerlich nahm sie die zuvor gepackte Tasche zur Hand und trat hinaus, schloss langsam die Tür hinter sich.
»Hab ein bisschen Vertrauen, das wird schon.«
»Du hast leicht reden. Ist ja nicht dein mysteriöser Freak aus Kindertagen«, erwiderte Amelia und holte ihr Fahrrad aus der angrenzenden Garage, verstaute das wenige Gepäck, das sie hatte.
»Ach, jetzt übertreib nicht. Wir finden ihn und dann bekommst du endlich deine Antworten. Und wenn nicht, setzen wir einfach Chris darauf an. Mit ihrem Sirenengesang hat sie bisher noch jeden Typen eingefangen.«
»Das ist nicht hilfreich Mara.«
Amelia schüttelte tadelnd den Kopf und sah zu, wie sich ihre Freundin aufs Rad schwang und sogleich die Einfahrt hinabrollte.
»Jetzt komm! Wenn wir hierbleiben, werden wir nie etwas in Erfahrung bringen«, rief Mara.
»Warte, nicht so schnell! Der See läuft uns bestimmt nicht weg!«
Amelia klang trotziger als beabsichtigt.
Sie war nicht sicher, welches Schicksal sie mehr fürchtete. Für immer mit der Ungewissheit leben zu müssen, die sie quälte, oder eine weitere Begegnung mit ihrem Retter, dessen Anblick sie einschüchterte und zugleich mit einer seltsamen Faszination erfüllte.
»Nein, aber all die heißen Typen, die Chris umgarnen, als wäre sie Aphrodite persönlich. Die Show will ich keinesfalls verpassen«, konterte Mara lachend und richtete dann ihren Blick nach vorne, trat in die Pedale.
Die beiden Mädchen nahmen sogleich die gewohnte Route zum Gewässer, folgten dem kurvigen Verlauf der Straße und erreichten nur wenig später den überfüllten Parkplatz, der nahtlos an die dahinterliegende Wiese angrenzte.
Amelias Unwohlsein nahm zu, je näher sie ihrem Ziel kamen.
Der Badeplatz rief ihr das gestrige Ereignis so bildgewaltig in Erinnerung, dass sie Maras Enthusiasmus verfluchte und sich in ihr sicheres Zuhause wünschte.
Wie hatte sie diesem Unsinn nur zustimmen können?
Schweigend ließ sie ihr Fahrrad ausrollen und stieg ab.
Da trat plötzlich ihre Freundin an sie heran, hängte sich fröhlich bei ihr ein und trug ein zufriedenes Lächeln zur Schau, das Amelias Fluchtgedanken im Keim erstickte.
»Du genießt das, nicht wahr?«
»Ein bisschen«, gab Mara zu. »Aber nur, weil ich mir vorstelle, wie du den Kerl anschmachtest, sobald du den ersten Schock überwunden hast. Glaube mir, wenn er nur annähernd so gut aussieht, wie du ihn immer beschrieben hast, wirst du deine Sorgen ganz schnell vergessen. Allerdings könnte der Nebel auch deine Sinne getrübt haben und er ist nach all der Zeit vielleicht total hässlich geworden? Marke Pickel am Arsch? Was machst du dann?«
Mara lachte herzhaft und nickte ihr aufmunternd zu, zog Amelia näher an sich heran.
»Na komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Wer weiß, ob wir ihn überhaupt finden. Du warst gestern alleine hier draußen und wenn euch nicht zufällig jemand beobachtet hat oder der Kerl aus heiterem Himmel wieder aufkreuzt, wirst du ihn wahrscheinlich eh nie wiedersehen. Also wozu die Sorge?«
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Meeresrauschen (Arbeitstitel)
FantasyDie siebenjährige Amelia wächst sorglos und behütet auf. Bis zu jenem Winter, in dem sie durch das Eis eines nahegelegenen Sees bricht und beinahe ertrinkt. Ein geheimnisvoller Junge rettet ihr das Leben und verschwindet danach spurlos. Zehn Jahre v...