Mit einem unangenehmen metallischen Kreischen schloss sich die Tür zu Maras Spind, donnerte wenig später in die Verankerung und läutete lärmend das Ende eines weiteren Schultages ein.
Amelia zuckte unter dem haarsträubenden Geräusch unmerklich zusammen, sah in die fragenden und unsicheren Augen ihrer Freundin, als der laute Wiederhall das Schweigen zwischen ihnen brach.
»Bist du dir sicher? Das klingt alles so ....«
»Unglaubwürdig? Verrückt?«, ergänzte Amelia die stotternden Versuche Maras das eben Gehörte zu erfassen und ihre Bemühungen, eine logische Erklärung für die befremdliche Begegnung von gestern Abend zu finden.
»Weit her geholt wollte ich sagen.«
Amelia packte unterdessen ihre Sachen und warf den Rucksack über die Schultern, dachte erneut an den Unbekannten im Nebel.
Das seltsame Ereignis hatte alte Wunden aufgerissen und sie kaum schlafen lassen.
»Deine Angst, die Dunkelheit, sie könnten dich getäuscht haben. Vielleicht war es nur ein Spaziergänger? Das klingt zumindest plausibler als ein Mann, der dich nach 10 Jahren aufsucht und der dir als Kind auf magische Weise im Wasser erschienen ist.«
Eine derart einfache Begründung war ihr tatsächlich noch nicht in den Sinn gekommen und sie musste sich eingestehen, dass Mara gar nicht so Unrecht hatte. Womöglich verdiente der gestrige Vorfall die ganze Aufregung überhaupt nicht.
»Ja, vorstellbar wäre es und vermutlich auch sehr viel wahrscheinlicher. Aber was, wenn nicht? Ich meine, falls er wirklich real ist?«
Mara nahm ebenfalls ihre Tasche zur Hand und folgte Amelia Richtung Treppe, äußerte ein weiteres Mal ihre Bedenken.
»Ich dachte man hielt deine Geschichte immer für Unsinn? Bloß wirre Bilder und Halluzinationen, die der mangelnde Sauerstoff bei dir ausgelöst hat? Selbst die Ärzte damals meinten doch, dass ein Junge unmöglich in der Lage gewesen wäre, dich aus dem See herauszuholen?
Überleg mal. Woher sollte dieser ominöse Retter denn gekommen sein und warum taucht er gerade jetzt wieder auf?«
Amelia hob ratlos ihre Schultern.
»Ich weiß es nicht. Ich sehe ja ein, wie blöd sich das anhört und mir ist auch vollkommen klar, wie unrealistisch das klingt. Auf der anderen Seite hat man nie eine Erklärung, eine Antwort darauf gefunden, wieso ich überlebt habe. Umgeben von eiskaltem Wasser und derart weit draußen wie ich war, konnte ich das Ufer unmöglich alleine erreicht haben. Ob kindliche Fantasie oder nicht, eigentlich hätte ich tot sein müssen.«
Gedankenverloren strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie fortfuhr.
»Mag sein, dass ich nicht mehr bei klarem Verstand gewesen bin und dieses Licht vielleicht gar nicht existierte. Aber wie man es auch dreht und wendet, ich hatte Hilfe. Und der Fremde von gestern sah aus wie jener Junge, der zum Zeitpunkt des Unglücks bei mir war.«
Die beiden Mädchen nahmen den Weg nach unten, überwanden die letzten Stufen und betraten kurz darauf den angrenzenden Gang dahinter.
Pechschwarze Fliesen bedeckten den Boden, erstreckten sich bis in den letzten Winkel der Schule und tauchten den maroden Bau in kühle Dunkelheit. Abgenutzte Wände, vergilbt und brüchig, säumten den Weg und betteten den Korridor zu beiden Seiten ein.
Blutrote Türen, deren Lack bereits abblätterte, unterbrachen die endlosen Mauern und das spärlich flackernde Industrielicht legte den Verfall der vergangenen Jahre offen. Ein Bild, das Amelias inneren Zerrissenheit entsprach, dem zerbrechlichen Glauben an eine normale Realität, die zusehends in sich zusammenbrach.
»Es kann doch nicht alles nur Einbildung gewesen sein«, murmelte sie und fühlte die Ohnmacht ihrer Kindheit, als sie ihren Eltern das erste Mal von der Erscheinung berichtet hatte.
»Er wirkte so real und auf seltsame Weise vertraut, hat sich bis heute kaum verändert. Naja, er ist natürlich ein wenig älter und irgendwie reifer geworden, aber dennoch sieht er genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Die gleichen tiefgrünen Augen, das blau schimmernde Haar ....«
Amelia sank den Kopf, wollte verbergen, welche Gefühle das sonderbare Erlebnis noch in ihr hervorgerufen hatte. Allein ihr rastloser Blick und die leicht rötlichen Wangen würden sie umgehend verraten.
Mara bemerkte ihre Verlegenheit allerdings gar nicht. Sie dachte offenbar angestrengt nach, wog mögliche Erklärungen miteinander ab und hielt auf die Tür am Ende des Ganges zu.
Die einsetzende Stille ließ Amelias Sehnsüchte und Fragen erneut aufleben, sie abermals in ihre Gedanken abdriften und stumm ihrer Freundin folgen.
Konnten die jüngsten Vorkommnisse endlich Licht in ihre dunkle Vergangenheit bringen, die Lücken in ihren Erinnerungen schließen?
»Vorausgesetzt du liegst richtig und einmal angenommen, er hat mit dem Unfall tatsächlich etwas zu tun«, platze Mara in ihre Überlegungen, riss sie ins Hier und Jetzt zurück.
»Vielleicht ist das deine Chance um zu erfahren, was wirklich geschehen ist? Deine Möglichkeit herauszufinden, wer er ist und woher er so plötzlich kam?«
»Und wie soll ich das anstellen?«
»Du könntest ihn fragen«, lächelte Mara und hob ihre Augenbrauen auffordernd an.
»Was? Und wie soll das gehen? Wie willst du ihn denn finden? Wer weiß, ob er überhaupt wieder auftaucht und wo er dann sein wird. Das ist alles mehr als vage und fragwürdig, meinst du nicht? Und außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Er hat mir eine Heidenangst eingejagt.«
Amelia konnte sich beileibe nicht vorstellen, dass eine mögliche Suche von Erfolg gekrönt war. Immerhin hatte sich der Fremde über Jahre hinweg vor ihr verborgen und sie würde ihn vermutlich nur wiedersehen, sofern er es zuließ. Dennoch spürte sie neben ihrer Angst und Neugier auch Hoffnung.
So lange schon trug sie all ihre Fragen mit sich, wünschte sie sich zu erfahren, wer er war, sodass sie geneigt war, über ihre Furcht hinwegzusehen.
»Ein bisschen optimistischer wenn ich bitten darf. Und die Amelia von früher hätte sich mit Anlauf in dieses Abenteuer gestürzt. Wenn du Antworten willst, musst du dieses Wagnis eingehen. Ich schlage vor, wir beginnen unsere Suche am See. Schließlich kam er gleich zweimal dorthin und das ist der beste Anhaltspunkt, den wir haben.«
»Ja, aber es lagen ganze 10 Jahre dazwischen.«
»Na, so lange wird es ja hoffentlich nicht noch einmal dauern«, lächelte Mara bedeutungsvoll, ehe sie fortfuhr. »Wir fahren heute nach dem Essen hin und sehen uns ein wenig um. Vielleicht kann jemand mit deiner Beschreibung etwas anfangen?«
Der lange Gang, dem sie folgten, endete und öffnete sich hinter der vor ihnen liegenden Tür zu einer kleinen Halle. Ein beinahe quadratischer Raum, gesäumt von kurzen, bauchigen Säulen und den leicht dilettantisch wirkenden Bildern aus diversen Kunstprojekten. Durch die Fenster und Türen fielen gleißende Bahnen puren Lichts, zeugten von der Helligkeit des Tages und vertrieben die gräuliche Düsternis im Inneren der Schule.
»Ich weiß nicht. Und Emba kommt auch von der Uni heim.«
Amelias halbherzige Ausrede brachte Maras Schritte ins Stocken.
»Die kann warten! Wenn du etwas herausfinden willst, dann sollten wir sofort damit anfangen.«
Amelia war es unmöglich zu antworten oder Wiederworte geltend zu machen, denn Maras Entschlossenheit machte jeden Versuch schon im Ansatz zunichte. Also fügte sie sich und vereinbarte einen ungefähren Zeitpunkt für das Treffen am See, fühlte, wie sich Unbehagen in ihr Herz schlich. Denn allein die Vorstellung, an den Ort der Begegnung zurückzukehren, ließ sie erschaudern und die Empfindungen von gestern Abend wieder aufleben.
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Meeresrauschen (Arbeitstitel)
FantasyDie siebenjährige Amelia wächst sorglos und behütet auf. Bis zu jenem Winter, in dem sie durch das Eis eines nahegelegenen Sees bricht und beinahe ertrinkt. Ein geheimnisvoller Junge rettet ihr das Leben und verschwindet danach spurlos. Zehn Jahre v...