Kapitel 3

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10 Jahre später

Eine leichte Brise wärmte Amelias Körper, ließ sie den nahenden Sommer spüren und verursachte eine angenehme Gänsehaut, die sich auf ihren Armen abzeichnete. Der laue Windhauch hob sanft die Seiten des Buches an, das auf ihren Knien ruhte, und in dessen Geschichte sie zu versinken begann. Weiches, saftiges Gras kühlte die nackten Füße und das Rascheln der Blätter vermischte sich mit dem Zwitschern der Vögel zu einem wohltuenden Klang friedlicher Stille, die die Natur für sie zauberte.

Erst das laute Dröhnen eines Mopeds, das den schmalen Pfad nahe dem Gewässer herabgedonnert kam, riss sie aus ihrem Buch fort und ließ sie den Weg, den das Gefährt nahm verfolgen, bis es hinter dem nächsten Hügel verschwand.

Zögerlich wandte sie sich ab und wollte eben weiterlesen, als sie jemand von hinten regelrecht ansprang.

»Hier bist du also!«

Amelia wich zurück, drehte sich erschrocken um.

»Mara, du spinnst wohl! Du bist wirklich unmöglich.«

Ihre Freundin lachte fröhlich und setzte sich ins Gras, ergriff ihre Hand und zog sie näher zu sich.

»Wieso sagen das immer alle?«

»Weil es wahr ist?«, antwortete Amelia spöttisch und stieß sie unsanft in die Seite.

»Das nächste Mal werfe ich dir mein Buch um die Ohren, wenn du nicht aufpasst. Wieso bist du eigentlich alleine hier? Wo ist Chris?«

»Wir haben unsere Fahrräder vorne abgestellt, sie müsste auch gleich da sein. Vermutlich trägt sie noch Lipgloss auf oder einen ähnlichen unnötigen Kram.«

Mara öffnete ihre Tasche und holte ein Handtuch heraus, ließ ihren Blick über die Wiese wandern.

»Ist das zu fassen? Kaum scheint die Sonne, kommen alle aus ihren Häusern gekrochen und kämpfen um die freien Plätze, als gebe es kein Morgen.«

Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf und sie winkte übertrieben fröhlich.

»Hierher Schönheit!«

Amelia folgte Maras Blick und entdeckte Chris, die sich durch die langsam eintreffenden Badegäste hindurch schlängelte und genervt mit den Augen rollte. Dutzende, neugierige Augenpaare hafteten an dem hübschen Mädchen und Mara gelang es, dass nun auch der Rest der umliegenden Besucher seine Aufmerksamkeit auf ihre Freundin richtete.

»Musste das sein?«, seufzte Chris demonstrativ, als sie kurz darauf bei ihnen ankam.

»Wow! Du bist ohne Begleitung? Keine Jungs, die dir dein Handtuch tragen? Die dich eincremen oder in purer Bewunderung und Selbstaufgabe zerfließen?«

Mara fing sich sogleich einen giftigen Blick ein.

»Wieso? Du bist mir sicher gerne behilflich. Und wenn du nicht sofort aufhörst, erzähle ich den Jungs, dass sie nur über dich ein Date mit mir bekommen. Dann bist du gefragter, als dir lieb ist.«

Mara hob daraufhin abwehrend die Hände und lachte.

»Nein, bloß nicht. Die ganze Aufmerksamkeit wäre mir definitiv zu anstrengend, da bleibe ich lieber der pummelige Schatten, der dir folgt. Blonde Mähne und verführerischer Wimpernaufschlag, das ist dein Fachgebiet. Solange ich neben dir unsichtbar bin, soll es mir nur recht sein.«

»Schluss jetzt ihr beiden«, sprach Amelia ein Machtwort und grinste amüsiert.

»Würdet ihr wohl verschwinden und einfach ins Wasser gehen? Ich will in Ruhe mein Buch lesen und versuchen, nicht im Erdboden zu versinken.«

»Klasse Idee, ich bin dabei.« 

Mara rappelte sich auf, begann sich zu entkleiden und sah Chris auffordernd an, wartete, bis auch diese sich aus ihren Sachen geschält hatte.

»Kommst du mit?«, fragte sie anschließend an Amelia gerichtet, obwohl sie die Antwort darauf bereits erahnte.

»Geht nur ihr beiden, ich sitze hier und nehme mir eine Auszeit von euren Peinlichkeiten.«

Amelia zwinkerte und nickte in Richtung See.

»Na schön, dann kann ich Chris ja nach Herzenslust ertränken«, bemerkte Mara und wich sogleich ihrer Freundin aus, die sich für die Worte revanchieren wollte.

Chris sprang ihr jedoch hinterher und die beiden liefen schließlich kichernd zum Ufer hinab.

Amelia sah ihren Freundinnen nach, wie sie albern lachten und wenig später laut kreischend ins kühle Nass sprangen.

Bei deren Anblick fühlte sie die Wehmut vergangener Tage, als das Wasser sie noch trug und in Welten voller Geheimnisse und Fantasie entführte. Bittersüße Erinnerungen an kindliche Abenteuer, die sie schmerzlich vermisste.

Seufzend wandte sie sich ab und schlug erneut ihr Buch auf, war dies ja schlichtweg der einfachste Weg, um der Welt und ihren Problemen, die sie manchmal bot, zu entfliehen.

Aber ihre Gedanken wollten nicht loslassen, hingen am See fest, sodass sie schlussendlich aufgab und begann, den Menschen um sich herum ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Deren lärmendes Geschrei verband sich inzwischen mit Musik, die aus dem ein oder anderen Lautsprecher hallte, und verdrängte zunehmend die Stille, die sie so sehr genossen hatte.

Viele der Familien kannte sie nicht, kaum einer, der aus der Nachbarschaft kam. Allesamt wirkten geschäftig und ausgelassen, dass Amelia unwillkürlich versucht war, sich ein Leben ohne Unfall vorzustellen. Kein überbehütetes Zuhause, das ihr strenge Regeln aufzwang, und keine Angst vor jenem Ort, der ihr einst beinahe den Tod brachte.

Sie ließ ihren Kopf auf ihre Knie sinken und seufzte leise, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Da mischte sich plötzlich ein anwachsendes Gefühl von Unbehagen in ihre Überlegungen, ein nicht greifbares, und doch stetig stärker werdendes Empfinden, das sie mehr und mehr verunsicherte.

Es schien beinahe so, als wäre die Realität in den Hintergrund gerückt und in ihrer Nähe jemand aufgetaucht, dessen Augen auf ihr hafteten. Amelia richtete sich auf und sah sich um, blickte in die Gesichter, die sich in ihrem Umfeld abzeichneten, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

Dennoch spürte sie, dass sie beobachtet wurde und es war ihr, als läge eine enorme Last in ihrem Nacken, wollte sie erdrücken. Dieses Gefühl wurde stärker und intensiver, rief Nervosität in ihr hervor und ließ sie weiterhin nach dem Individuum suchen, das sie so vermeintlich anstarrte- jedoch vergeblich.

Mehrmals sondierte sie den Wald nahe ihrem Platz und durchbohrte das Dickicht. Doch erst jetzt, da sie so angestrengt lauschte und auf ihre Umgebung achtete, fiel ihr die sonderbare Stille auf, die sich um sie herum erhob. Kein Vogelgesang mehr, selbst der Wind war offenbar verstummt.

Erneut musterte sie die Menschen, die sich um sie tummelten, ohne Erfolg.

Da ergoss sich plötzlich ein Schwall kaltes Wasser über ihren Rücken und Amelia schrie auf, wandte sich mit einem Ruck nach hinten.

»Wir dachten, du könntest eine kleine Abkühlung vertragen«, lachte Mara.

Ihre Freundin umgriff sie sogleich mit ihren kalten Armen und drückte sie an sich, was Amelia erneut aufstöhnen ließ.

»Das Wasser ist einfach herrlich«, fügte Mara hinzu, löste schließlich ihre Umklammerung und nahm stattdessen ihr Handtuch an sich.

»Ihr hättet mich wenigstens vorwarnen können«, erwiderte Amelia überrascht und zudem ein wenig halbherzig, denn ihre Gedanken und Blicke hingen nach wie vor an der Umgebung fest.




Meeresrauschen (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt