Kapitel 2

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Augenblicklich griff eine schier unerträgliche Kälte nach ihr, durchfuhr ihren Körper und zog sie regelrecht hinein. Der Schmerz trieb ihr die Luft aus den Lungen, ließ sie hektisch um sich schlagen. Vergeblich suchte sie Halt, griff nach dem Rand, der jedoch erneut unter ihrem Gewicht nachgab. Das ausgefranste und dünne Eis zerbarst, bevor sie sich daran hochziehen konnte.

Schwer lag die inzwischen vollgesogene Kleidung auf Armen und Beinen, zerrte sie nach unten. Zugleich machten die Schlittschuhe ein Entkommen unmöglich, sodass Amelia schließlich unterging und das eisige Nass über ihr zusammenbrach. Die Stille des Sees hüllte sie ein, verschlang alles um sich herum.

Verzweifelt versuchte sie nach oben zu gelangen, ruderte gegen das todbringende Wasser an. Die Kälte raubte ihr die verbliebene Wärme aus den Gliedern, ließ ihre Bewegungen schwer und langsam werden. Ein letztes Mal gelang es ihr noch Luft zu holen, bevor ihre Kräfte schwanden und sie tiefer und tiefer sank.

Die Helligkeit des Tages nahm stetig ab und die rettende Oberfläche verschwand nun gänzlich aus ihrem Blickfeld.

Panik erfasst sie, jetzt da sie spürte, wie sich auch ihre Luftreserven nach und nach erschöpften. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrem Brustkorb aus, der Druck mangelndem Sauerstoffs, der rasend schnell zur Neige ging.

War das das Ende?

Im Moment ihres nahenden Todes erkannte sie plötzlich einen Lichtschimmer unweit von ihr, der auf sie zukam und von einer solchen Wärme und Schönheit war, dass sie ihre Angst beinahe vergaß.

Hilfesuchend streckte sie ihre tauben Finger aus, versuchte das Schauspiel zu berühren, als würde es ihr Leben retten.

Aus dem Licht heraus formte sich unmittelbar ein Gebilde, einem Schatten gleich, das sich ihr näherte. Ob real oder ein Trugbild ihres Verstandes, aber aus dem seltsamen, verschwommenen Dunkel wurde eine Gestalt, mit dem Gesicht eines Jungen, kaum älter als sie selbst.

Er kam ganz dicht an sie heran, musterte sie sonderbar und lächelte dann.

Seine Augen waren von einem satten Grün, ruhten auf ihr und schienen bis tief in ihre Seele zu blicken. Zugleich sah sie Güte und kindliche Neugier darin, fast vertraut und von einem wohligen Gefühl der Wärme begleitet.

Die Haare, die in den Wellen des Sees trieben und tanzten, schimmerten in den blauen Farben des Ozeans und schmeichelten dem muskulösen Oberkörper des Jungen, der nahezu weiß aus der Schwärze hervorstach. Wie das Licht, das ihn umgab, strahlend und hell.

Alles andere verlor sich in der Düsternis hinter ihm und in dem Tunnel, der Amelias Blick verhüllte.

Die Farben und auch die fremde Gestalt vor ihr verblassten rasch und sie spürte, wie die Ohnmacht nach ihr griff. Da nahm der Junge sie an der Hand und zog sie empor, mit einer Kraft, die sie am ganzen Körper fühlte.

Eisiges Wasser glitt über ihr Gesicht, schmerzte auf der Haut, bevor die Bilder vor ihren Augen gänzlich verschwanden und die Dunkelheit sie fortriss, ihren müden Geist erlöste.

Ohne Furcht trieb sie in die Stille, denn die Hand, die sie spürte, gab ihr Kraft, und die Wärme, die darin lag, füllte sie aus, bis auch der letzte Schimmer um sie herum erlosch.


Meeresrauschen (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt