Sechs oder sieben

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Seth lehnte sich zu ihr hinab.
»Sie sind alle wie du, Eben. Ungewollt und verachtet. Zudem könnte dich ihre Anwesenheit an deine Aufgabe und die Loyalität mir gegenüber erinnern. Wer weiß, vielleicht werdet ihr am Ende sogar Freunde.« 

Ihr entging der Stachel nicht, der sich in seinen Worten verbarg. Sie würde ihn leiden lassen für das hier, das schwor sie sich bei ihrer unsterblichen Seele.  

Er unterdessen wandte sich ab. 

»Lernt euch erst mal kennen. Nachher gibt es eine Besprechung. Ich lasse dich rufen«, rief er ihr noch über die Schulter zu, als er schon auf halbem Weg wieder den Gang hinunter war. 

Der Zorn auf ihn tobte in Ebens Innerem und genauso wollte sie ihre Dunkelheit toben lassen. Wollte die Schattenklauen in irgendwas vergraben und es in Stücke reißen. Doch sie erlaubte es der Magie nicht. Sie wusste nichts über die sechs, oder eher sieben, Jugendlichen, die sich über den riesigen Raum verteilt hatten und sie nun beiläufig oder mit unverhohlener Neugier musterten. Sie wusste nichts über ihre Beweggründe und Ziele, nichts über ihre Stärke.  

Sie würde mit ihnen zusammenarbeiten, weil Seth es verlangte und sie gehorchen musste, wenn sie ihre Bezahlung wollte. Aber sie würde mit keinem von ihnen Freundschaft schließen, das schwor sie sich. 

Mochte ja sein, dass sie ein ähnliches Schicksal erlitten hatten wie sie selbst, aber das bedeutete nicht, dass Eben sie mögen musste. Genau genommen war sie fest entschlossen, sie allesamt zu hassen. 

»Du bist Ebonique«, hörte sie mit einem Mal eine Stimme über ihrem Kopf. 

Als sie genervt nach oben schaute, begegneten ihr zwei leuchtend rote Augen, die sie unverwandt anstarrten. Der dazu gehörige Mund grinste selbstsicher. Die ganze Erscheinung des Jungen war geprägt von diesem Ausdruck stiller Arroganz. 

Eben konnte ihn auf Anhieb nicht leiden. 

Sie hatte sich zwar vorgenommen, mit keinem von ihnen eine Freundschaft einzugehen, doch sie hatte nicht erwartet, dass es so einfach werden würde. 

»Mein Name ist Eben, und wenn du nicht mit meinem Schwert im Bauch enden willst, nennst du mich besser auch so«, erwiderte sie gereizt.  

Sie hatte wenig Lust, sich mit dem fliegenden Typen zu unterhalten, der in diesem Moment zu ihr hinabglitt und geschickt landete. 

Stehend wirkte er deutlich größer.  

»Warum so schlecht gelaunt?« 

Er fuhr sich bei seiner Frage durch das dunkle Haar und lächelte, als erwarte er, dass sie sich jetzt, da sie ihn genauer betrachten konnte, plötzlich anders verhielt. 

Als würde sie seinem kantigen Gesicht und den ausgeprägten Muskeln, die sich unter seiner hellen Haut abzeichneten, sofort verfallen. 

Doch das Einzige, was sie ansah, waren seine Flügel. Sie waren nicht wie die des Engels, weiß und leuchtend, sondern von einem tiefen Rot, als hätte man sie in Blut getränkt. Sie besaßen keine Federn, nur eine dünne, ledrige Haut, die sich zwischen den Gelenken spannte und ihm so den benötigten Auftrieb verschaffte. 

Für einige Sekunden konnte sie ihren Blick nicht von ihnen lösen. 

Sie wollte auch solche Flügel. Sie würden ihrem Erscheinungsbild etwas Ehrfurchtgebietendes verleihen. Und die Freiheit, die sie ihr schenken könnten … Sie packte diesen Wunsch, ehe er zu stark wurde, und vergrub ihn unter ihrer Mauer aus Selbstkontrolle und Kälte. 

»Ich bin übrigens Claudell, Sohn des Luzifer. Sehr erfreut.« 

Er deutete eine Verbeugung an und schien darauf zu warten, dass sie seine Begrüßung erwiderte. 

Er wartete vergebens. 

Als er aufblickte, war Eben bereits an ihm vorbei geschritten.  

Sie hatte kein wirkliches Ziel, doch solange es sie von dem Flügeltypen wegbrachte, war ihr alles recht. 

Schon ihre erste Begegnung hatte ihr wenig Lust gemacht, die anderen Jugendlichen kennenzulernen. Aber sie wollte wissen, mit wem sie es zu tun hatte, also beschloss sie, erst einmal einen Eindruck von denen zu bekommen, die so unverhofft zu ihren Mitstreitern geworden waren. 

Der Großteil des in der Halle vorhandenen Platzes wurde von einer Vielzahl an Geräten eingenommen, deren Funktion Eben nicht kannte. 

Doch schienen sie dem Training zu dienen, denn zwei junge Männer waren gerade damit beschäftigt, sich, dank ihnen, klatschnass zu schwitzen. 

Der Größere der beiden wirkte, als habe man seine Haut mit Asche überzogen. Er besaß kurzes struppiges Haar in der Farbe von schäumenden Wellen und stemmte gerade ein Gewicht in die Höhe, auf dessen Seite die Zahl 400 kg prangte. 

Sonderlich angestrengt wirkte er dabei nicht, bis er ein zweites Gewicht derselben Größe dazu nahm, sie über seinen Kopf hob und anschließend wieder sinken ließ. Schweiß tropfte in kleinen Perlen von seiner Stirn und versickerte im Stoff seines schwarzen Shirts, während er diesen Vorgang fortwährend wiederholte. 

All dies tat er mit einer offensichtlichen Konzentration, die nicht einmal ihre Ankunft zu stören schien. 

»Eben, stimmts?«, fragte er plötzlich, als sie sich ihm näherte. 

Eben hatte schon gedacht, dass er sie gar nicht mehr bemerken würde, und wunderte sich zugleich, woher alle ihren Namen zu kennen schienen. 

Sie gab sich die Antwort dann aber selbst. Er musste gehört haben, wie sie es dem Flügeltypen gegenüber erwähnte und der wiederum hatte ihren eigentlichen Namen von Seth. 

Sie nickte knapp, das Höchstmaß an Freundlichkeit, das sie im Augenblick aufbringen konnte. Immerhin verspürte sie noch nicht den Wunsch, ihn zu erdolchen. 

»Ich kann mir vorstellen, dass du von all dem hier wenig begeistert bist, sind die wenigsten von uns.« 

Eben antwortete nicht. Daran, dass es manchen von ihnen wie ihr gehen könnte, hatte sie gar nicht gedacht. Doch es änderte nichts. Es machte sie in ihren Augen nicht bedeutender oder eine Freundschaft erstrebenswerter. 

»Jeder von uns will das unbeschadet hinter sich bringen, also schlage ich vor, dass wir zusammenarbeiten, zumindest bis der Auftrag erledigt ist.« 

Mit den letzten Worten ließ er die Gewichte fallen. Ein kurzes Beben ging durch die Halle, doch niemand schien es zu stören. Er streckte ihr die Hand entgegen. 

»Was sagst du? Deal?« 

Eben blickte von seiner wartenden Hand zu seinem Gesicht. Starrte einen Moment in die Augen, die dunkel wirkten, wie nur schwach glimmende Kohlen, und beschloss, dass es nicht schaden konnte, ihn zumindest nicht zum Feind zu haben. 

Sie griff zu, ohne wirklich die Absicht zu haben, sich an ihr Wort zu halten, sollte sich ihre Laune ändern.  

»Bist du der Anführer oder sowas?«, fragte sie, als sich ihre Hände wieder voneinander lösten. 

Er blinzelte verblüfft, als hätte er darüber noch nie nachgedacht. Dann lachte er laut auf. Es war ein herzliches Lachen, ein echtes. Trotzdem fühlte es sich für Eben falsch an. Wie lange war es her, dass jemand in ihrer Gegenwart so offen gelacht hatte? 

»Das bin ich wohl, auf eine gewisse Art. Sagen wir einfach, ich versuche ein bisschen auf alle hier aufzupassen. 

Ich bin übrigens Xerxes.« 

Wieder erhielt er nur ein Nicken, doch das schien ihn nicht zu kümmern. 

Er wandte sich um und blickte suchend zwischen den Geräten herum, hinter denen der zweite Junge verschwunden war. 

»Dann wollen wir dich mal vorstellen. Jeevan!« 

Ein helles Gesicht unter einem schwarzen Haarschopf kam zum Vorschein. Die schmalen Lippen erwiderten das Lächeln nicht, das Xerxes ihm zuwarf, dennoch kam er heran. 

Erst als sie nur noch wenige Meter trennten, erkannte Eben die starken indischen Züge. Verwundert sah sie auf seine Haut, die zu hell für jemanden seines Blutes schien. Was sie färbte, waren Narben. 

Totengötter sterben nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt