Teil Zwei

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Seth blickte auf, als Eben durch die großen Flügeltüren hineinspazierte, den Kopf erhoben, als gäbe es nichts, was sie erschüttern konnte. Seine berechnenden Augen folgten ihr, während sie sich betont gelassen in dem teuer eingerichteten Raum umsah. 

Eben selbst spürte, wie er sie beobachtete. Seine Aufmerksamkeit schien eine eisige Decke um sie zu legen, als strahle sein Wesen bis zu ihr hinüber. Sie versuchte, es zu ignorieren und tat, als bemerke sie die Kälte nicht. 

Seinem direkten Blick wollte sie jedoch noch weniger begegnen. Nicht, solange sie noch so aufgewühlt war.  

Die Meditation hatte versagt, war sie doch unterbrochen worden. Und so war das Gefühl der Schutzlosigkeit, mit dem Hunor sie zurückgelassen hatte, noch immer vorhanden. Sie glaubte nicht, Seths prüfender Musterung standhalten zu können, bevor die Mauern um ihr Herz nicht wieder vollständig errichtet waren. 

Also betrachtete sie mit vorgeschobenem Interesse ihr Umfeld. Weinrote Sessel waren in einem lockeren Kreis aufgestellt worden. In einigen von ihnen hatten bereits die ersten Götter Platz genommen. 

Eben erkannte Eos, die in ein angeregtes Gespräch mit der Frau neben ihr vertieft war. Diese besaß japanische Züge, ganz ähnlich wie Ryuko. Doch anders als das junge Mädchen strahlte die Göttin eine Aura der Macht aus, wie sie selbst unter ihnen nur die Ältesten besaßen. 

Um ihre schlanke Gestalt regnete es fortwährend zarte rosa Blüten. Die feinen Blätter, die wie Schnee zur Erde fielen, verschwanden jedoch, sobald sie den Boden berührten.  So wirkte es, als säße die Frau allein in einem rosa Schauer, der auf niemanden sonst Einfluss hatte. 

Einen Sessel weiter saß ein Mann, dessen langer weißer Bart fast bis zu seinen Füßen reichte. Um seinen dürren Leib lagen Kleider, wie sie in dieser Zeit niemand mehr zu tragen schien. Ein einfaches Gewand, aus braunem Wollstoff, das von einer schlichten Kordel um die Taille gerafft wurde. Seine Augen waren grau wie schwere Sturmwolken und das Gesicht gezeichnet von den Jahrtausenden an Erfahrung.  

Seltsamerweise wollte ein Teil von Eben ihm vertrauen, mehr als jedem anderen, sogar mehr als sich selbst. Aber sie schüttelte das fremde Gefühl ab. 

Götter konnten die verschiedensten Effekte auf die Leute in ihrem Umfeld ausüben und Eben erkannte es, wenn einer sie zu beeinflussen versuchte. Manche von ihnen taten es nicht einmal beabsichtigt. Es war schlicht ein Teil ihrer Natur, so wie ein Kriegsgott immer Streit anfing oder ein Erntegott alles um ihn zum Wachsen brachte. 

Die meisten der Jugendlichen, die mit Eben in die Unterwelt eindringen sollten, waren bereits anwesend. 

Der Flügeltyp schwebte wie immer über den Köpfen aller, die Zwillinge teilten sich die Plätze nahe der Tür und Xerxes unterhielt sich mit dem Mädchen, das Eben hatte holen sollen. Ryuko wirkte völlig aufgelöst und der graue Riese versuchte offenbar, sie mit tröstenden Worten zu beruhigen.  

»Da hast du der kleinen Ryu ja einen ganz schönen Schreck eingejagt.« 

Eben hatte nicht bemerkt, wie Claudell ihr so nahegekommen war, doch sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er sie unvermittelt ansprach. 

Sie wusste, dass es ihr leidtun sollte, dass sie Ryuko erschreckt hatte, doch das tat es nicht. Eben hatte andere Dinge getan, die sie wirklich bedauerte, und dem Mädchen war schließlich nichts passiert.  

»Pass lieber auf, dass du nicht der nächste bist«, erwiderte sie daher schneidend und ließ sich auf einen der letzten freien Plätze fallen, direkt neben Xerxes. 

Der beugte sich zu ihr hinüber und funkelte sie böse an. 

»Darüber reden wir später.« 

Eben verdrehte nur die Augen. 

Totengötter sterben nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt