The Kid Is Alright

175 7 0
                                    


„Dad?"

Ich werfe meinen Rucksack auf die unterste Treppenstufe und gehe weiter hinaus in den Garten, in dem mein Vater seit Monaten damit beschäftigt ist, eine Terrasse zu bauen. Aber heute schleppt er keine Steine oder Bretter und flucht über ungerade Kanten, sondern unterhält sich mit einem Mann, den ich schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen habe. Das letzte Mal muss ich höchstens fünf gewesen sein. Er hat mich hochgehoben und herumgewirbelt, uns „Familie" genannt. Er hat mir zu meinem vierten Geburtstag ein Miniaturmotorrad geschenkt, das ich in einer der Erinnerungskisten im Keller aufbewahre. Direkt neben der von meinem Dad.

„FP", erstaunt bleibe ich in der Tür stehen, „störe ich?"

Die beiden Männer drehen sich gleichzeitig zu mir um. Ihre versteinerten Miene sprechen Bände. Natürlich störe ich. Wenn es um die Serpents geht, kann ich der Meinung meines Vaters nach nicht weit genug weg sein.

„Du bist gar nicht mit dem Motorrad da", die kleine Stichelei kann ich mir nicht verkneifen. Ich lasse sie alleine, hole mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und setze mich an den Küchentisch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Dad vor mir steht und mir sagt, man könne die Vergangenheit nicht von heute auf morgen begraben und neu anfangen. Das sagt er immer.

„Ich wollte dich heute abholen", er wirft mir einen kurzen Blick zu, ehe er sich die Hände in der Spüle wäscht und zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank nimmt.

„Wir durften früher gehen", sage ich, „Jason Blossom wird vermisst."

Er runzelt die Stirn. Er wusste es bereits. In einer Stadt wie Riverdale bleibt ein vermisster Teenager nicht lange ein Geheimnis. 

„Kanntest du ihn?"

„Ich kenne ihn, ja", ich verdrehe die Augen, „jeder kennt ihn."

Er sagt nichts. Stattdessen verschwindet er mit dem Bier und ich weiß, dass ich ihn die nächsten Stunden nicht zu Gesicht bekommen werde. Also ziehe ich mich um und verabrede mich mit den anderen bei Pop's. Ein kleines Diner mit roten Polsterbänken und dem Charme eines anderen Jahrzehnts. Unser Ort. Der einzige Treffpunkt der Stadt.

Jugead, Betty, Veronica, Archie und Kevin sitzen bereits an einem der Fenstertische. Ich habe mir auf dem Weg länger Zeit gelassen als üblich. Die Stadt wirkt gespenstisch, seit ihr teuerster Sohn verschwunden ist. Außerdem trifft mein Vater sich nicht ohne Grund mit seiner so verhassten Vergangenheit. Er hat FP jahrelang nicht die Tür geöffnet und plötzlich trinken sie Bier und plaudern in unserem verwilderten Garten?

„Hey Leute."

Ich nehme mit einem Stuhl am Kopfende vorlieb und bestelle mir einen Erdbeershake.

„Was macht dein Dad bei uns, Jug?"

Ich gehe nicht davon aus, dass er mir das beantworten kann. Die beiden haben schon seit Jahren nur noch sporadischen Kontakt. Mein Dad ist eine Art Ziehvater für Juhgead geworden, seitdem er der Southside ebenfalls den Rücken kehrte. Die anderen wissen schon immer von meiner, aber erst seit Kurzem von Jugheads Verbindung zur Southside.

„Er ist bei euch?", er runzelt verwirrt die Stirn.

„Denkt ihr, dass hat was mit Jason zu tun?", schaltet sich Kevin ein.

„Nicht alles hat automatisch mit Jason zu tun", erwidere ich, „ich bezweifle, dass sie sich für einen weggelaufenen Teenager interessieren."

Naja, im Grunde hat schon alles irgendwie mit Jason zutun. Man kann den Blossoms nicht entgehen. So wie Cheryl und Jason die Schule regieren, regieren ihre Eltern Riverdale. Auch wenn ich befürchte, dass Veronicas Eltern ihnen früher oder später Konkurrenz machen werden. Ich wickle eine lockige Haarsträhne um meinen Zeigefinger und nuckle an meinem Strohhalm. Normalerweise herrscht an diesem Tisch nie Stille, aber wir hängen alle unseren Gedanken nach. Es ist das aufregendste, das hier seit langem passiert. Eltern verhängen Ausgangssperren und die Polizei ruft dazu auf, sich zu melden, wenn man am 4. Juli etwas Verdächtiges bemerkt zu haben glaubt.

„Was denkt ihr, was mit ihm passiert ist?", fragt Veronica beinahe flüsternd. Wir tauschen undeutbare Blicke.

„Vielleicht ist er abgehauen", überlegt Archie, „wer würde es ihm verdenken?"

„Cheryl sah wirklich bedrückt aus", sagt Betty mit trauriger Miene, „er hätte das nie ohne ihr Wissen getan. Sie sind unzertrennlich gewesen. Sie haben diese ganz besondere Zwillingsbindung gehabt."

Ihre Kulleraugen rollen ihr beinahe aus dem Kopf, so betrübt ist sie. Ich liebe sie für ihre Einfühlsamkeit, aber wenn sie ehrlich ist, war die Beziehung der beiden schon mehr als "diese ganz besondere Zwillingsbindung". Ich empfand sie auf gewissene Weise verstörend. 

„Wenn man dir so zuhört, könnte man meinen, sie hätten ihn schon beerdigt", nuschelt Kevin. Veronica verzieht das Gesicht.

„Ihm könnte auch was passiert sein", sagt sie. Jughead und ich tauschen einen flüchtigen Blick. Eine kurze Versicherung. Wir sagen nichts. Nichts, was gegen uns verwendet werden könnte.

„Ihm geht's gut", sagt Jughead so überzeugend, dass sämtliche Blicke auf ihm ruhen. Dieser plötzliche Optimismus lässt ihn unnötig verdächtig wirken. 

„Lasst uns das Thema wechseln", sage ich eine Spur zu hastig, „hat irgendjemand etwas Interessantes zu erzählen?"

Es geht ihm gut. Jason Blossom geht es gut. Archie erzählt von einem anstehenden Footballmatch, was nur dazu führt, dass er sich fragt, ob es ohne Jason stattfinden wird. Dem Shootingstar des Teams. Wir drehen uns im Kreis.

Später begleitet Jughead mich nach Hause. Niemand von uns sagt etwas, bis wir in meine Straße einbiegen. Die Hände tief in die Jackentaschen geschoben, die Köpfe gesenkt. Langsam wird es kälter. Bis der erste Schneesturm kommt, werden wir nicht damit aufhören, mitten in der Nacht durch die Straßen zu schlendern.

„Wir haben nichts gesehen", sage ich.

„Gar nichts", stimmt er mir zu.

FP ist weg, als wir das Haus betreten. Mein Vater sitzt auf der Couch und blättert in einem Heimwerkerkatalog. Solche Dinge tut er nur, wenn er nach einem besonders aufreibenden Tag wie ein vorbildlicher alleinerziehender Vater wirken möchte. Keine Ahnung, für wen er dieses Schauspiel abzieht. Wir wissen doch beide, dass FP nicht grundlos hier war.

„Hey, Jug, lange nicht gesehen", er sieht erfreut auf, „bleibst du zum Abendessen?"

„Darauf gibt es nur eine richtige Antwort", grinst Jug. Immer.

„Dein Vater war heute hier", mein Dad wirft mir einen prüfenden Blick zu, „aber das weißt du sicher schon."

„Ich habe sowas gehört, ja", Jughead kratzt sich an seiner Mütze. Seinem Markenzeichen. Ich halte meinen bissigen Kommentar zurück.

„Er macht sich Sorgen um dich."

„Auf einmal?", Jughead hält sich weniger zurück.

„Jason Blossom ist verschwunden. Die Polizei sucht überall nach ihm", mein Vater klingt ernster als sonst, „er hält es für besser, wenn du vorerst zu uns ziehst. Und ich tue das auch."

Jughead wohnt und arbeitet im alten Autokino. Er überwintert meist bei Archie, aber hier hätte er ein eigenes Zimmer und einen wirklich begabten hauseigenen Koch.

„Unsere Tür steht dir immer offen. Die Entscheidung überlasse ich dir."

Mir hätte er diese Entscheidung ganz sicher niemals überlassen. Aber jetzt einen Streit über Feminismus und das Patriarchat vom Zaun brechen. 

„In dem Schuppen wirds langsam sowieso zu kalt."

„Ich fahre dich später, damit du packen kannst", Dad klopft ihm fest auf die Schultern, ehe er sich daran macht, das Abendessen vorzubereiten.

„Er macht sich keine Sorgen", brummt Jug so laut, dass nur ich es höre, „er will mich kontrollieren."

Ich lächle.

„Jason geht's gut, oder?", ich muss ihn ein letztes Mal fragen, mich ein letztes Mal versichern, ehe ich den Gedanken von mir schiebe. Jason nicht mehr in meinen Kopf lasse. Jughead nickt. Ich versuche, es ihm zu glauben. Es gelingt mir nicht.

SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt