Zuvor: Diese Geschichte ist realer, als ich eigentlich geplant hatte, sie werden zu lassen. Ich mache grade eine schwere Zeit durch und habe durch das Schreiben dieser kurzen Story eine Möglichkeit gefunden, dies zu verarbeiten. Einfach meine Dummheiten und Unstimmigkeiten niederzuschreiben und mir vor Augen zu führen.
...
Wenn Du auch Probleme mit dem Essen hast, bedenke bitte, das sich diese Geschichte darum dreht und Dich eventuell beeinflussen könnte. Ob positiv oder negativ, weißt nur du, deswegen ist es Deine Entscheidung. Doch bitte denke vorher gut nach.
Danke für Deine Aufmerksamkeit!—-
Eine Übelkeit, aufsteigend von innen heraus. Eine Übelkeit, so stark, dass sie ihr zum Erbrechen verhelfen könne. So kraftvoll, dass sie die Sünde beseitige. Sie stand gebeugt und steckte sie sich in den Hals. „Zwei müssen es sein, denn einer scheint nicht zu reichen.", denkt sie sich, während ihre Augen sich unter der drückenden Anstrengung mit Tränen füllen. Endlich, ein Würgen. Sie fällt auf die Knie, spannt ihre Bauchmuskeln - oder das, was von ihnen übrig ist - an und drückt. Nichts. Der dritte Versuch, keine Resultate, die sie ansatzweise zufrieden stimmten. Bei dem Versuch, sich selbst zum Erbrechen zu zwingen, erzeugt sie nicht mehr als Gallenflüssigkeit, was sie wundert, denn schließlich hatte sie doch grade erst gegessen. Verzweifelt bricht sie neben der Toilettenschüssel zusammen. Ein Weinen aus purer Verzweiflung entrinnt ihrem Hals, nahezu heulend lehnt sie an der Wand und stützt ihren Kopf auf den knochigen Knien. Diese eine Zahl kreiste durch ihren Kopf. 234. 234. 234. Dahinter vier einzelne, klein gedruckte Buchstaben. k-c-a-l. Diese sieben Zeichen waren die Gründe dafür, dass eine sechszehnjährige Gymnasialschülerin heulend wie ein Kleinkind vor der Toilettenschüssel saß und kreischte. Sie war allein zu Haus. Sie hätte Musik hören können, Zeichnen können, Dinge tun können, die ihr Spaß machten. Dinge tun können, die andere Gleichaltrige wohl an ihrer Stelle getan hätten. Doch auch, wenn ihr Vater grad erst als letzte zusätzliche Person das Haus verlassen hatte, ist sie nicht allein. Sie weiß nicht, wie lange sie neben der Toilette auf dem Boden sitzend geweint hatte, aber als sie in den Spiegel schaut, sind ihre Augen rot von Tränen. Ihre Augenringe ziehen sich wie tiefe schwarze Schluchten unter ihren grünen Augen entlang. Ihr Gesicht ist blass, wobei sie nicht weiß, ob dies vom Schlafmangel oder der eben aufgebrachten Anstrengung resultiert. Sie nimmt das Glas, welches während der Aktion mit warmem, salzigem Wasser gefüllt wurde und wäscht dieses in der Spüle aus. Ihr gefällt es nicht, wenn Geschirr unordentlich neben der Spüle steht, weswegen sie das tropfnasse Glas direkt abtrocknet und zurück in den Schrank stellt. Sie steht an der Spüle und betrachtet die Küche. Bewusst wendet sie ihren Blick nicht nach rechts, denn dort stehen die Reste ihres Mittagessens, welches ihr zuvor all die Sorgen bereitet hatte. Gehacktes, in Form eines Klopses, welcher pro Stück um die 150-200 Gramm wiegt. Dies weiß sie genau, denn sie hatte alle von ihnen gewogen. Bevor ihr Vater und sie zu Mittag aßen, sah sie für sich ein kleines Stück, mit einer Gewichtanzahl von etwa 89g vor. Sie wollte alles versuchen, um die Aufnahme von mehr als den 234 kcal bei 100g des Gehackten zu vermeiden, doch ihr ‚Plan' scheiterte. Ihr Vater füllte ihr auf, im Hinterkopf eine dauerhafte, in letzter Zeit rasch wachsende, Besorgnis, dass seine Tochter in vergangenen Monaten stark an Gewicht verloren hatte. Das größte Stück Fleisch, das Kleinste tat er sch auf, damit sie nicht in Versuchung geraten konnte. Seine Besorgnis um seine älteste Tochter wuchs beträchtlich, als diese halb weinend eine knappe Hälfte ihres Essens verzerrte. Er wollte sie darauf ansprechen, was mit ihr los sei, warum sie immer weniger esse, ob es ihr nicht auffiele, dass sie immer dürrer würde. Doch die Zeit drängte, denn schließlich musste er zur Arbeit. Insgeheim wollte er sie nicht allein lassen. So wie zu häufig in der letzten Zeit machte er sich, nicht zu Unrecht, viele Sorgen um Sara. So wie seine Gedanken um seine Tochter kreisten, kreisten die Gedanken dieser, von dauerhaften Vorwürfen angereichert, um das Mittag- und das noch anstehende Abendessen. ,Schau Dich doch mal an. Dieser Bauch, so prall und fett. Diese Arme so wabbelig, die Beine so breit. Du bist so unproportioniert und denkst nur ans Essen.' Die ganze Zeit wiederholten sich diese Worte immer wieder, während sie ihr leicht angedeutetes Spiegelbild im Fenster betrachtete. ,Beweg Dich, Du faules Stück. Beweg Dich, Du verfressenes Ding. Beweg Dich, beweg Dich sofort! So schlapp bist Du nur, weil Du so viel gefressen hast!' Sofort nahm sie ihr Handy und stellte ihren Eltern die Frage, ob diese ihr einen Spaziergang mit ihren Hunden erlaubten. Wahrscheinlich mit starken Bedenken, stimmten sie ihr zu. Gleich nach Antwort nahm sie Leinen und Schlüssel, zog sich ihre Laufschuhe an und rannte übers Feld. ,Schneller!', hallte es die ganze Zeit in ihrem Kopf. ,Schäm Dich, dass Du so langsam bist. Erbärmlich!' Ihr ED-erkrankter Hund hechelte ihr in der Hitze hinterher, die anderen zwei tobten übers Feld. ,Die hätten verdient zu liegen, aber Du...', hörte sie wieder. Vor lauter Erschöpfung blieb sie kurz stehen. ,War ja klar.' Sie stützte ihre Hände auf die Knie und keuchte. Die drückende Hitze unterstützte ihren Zustand. ,Lauf!', wisperte es. Und sie rannte. Sie rannte und rannte und aus der Ferne sah ein Bauer ein junges, dürres Mädchen mit ihren drei Hunden über sein Feld hechten, wunderte sich, was sie dazu trieb, sich bei der Hitze zu quälen und verstand nichts. Denn was sollte er verstehen, was sie selbst niemals verstehen würde...
Es ist schon komisch.
Wenn sie morgens in den Spiegel sieht (oder auch, wenn sie nur sehr wenig gegessen hat), ist ihr Bauch nahezu flach. Trotzdem bezeichnet sie selbst sich als unproportioniert, auch wenn sie nur etwas trinkt. Ihr Bauch wölbt sich vor. Ebenso wie bei ihrem Vater, von dem sie dieses biologische Merkmal wohl geerbt bekommen hatte. Eine Zeit lang verzichtete sie unter anderem deswegen komplett auf das Essen, aß kaum, ein ganzes Jahr hindurch. Gut, das mit dem Essen scheint vorerst geregelt, aber dennoch verzweifelt sie nicht selten, wenn sie etwas isst, dann in den Spiegel sieht und ihren Bauch betrachtet. Sie macht Sport, dies sieht man ihr am Körper an, aber sie hasst ihren Bauch einfach nur. Dadurch, dass er sich vorwölbt, dadurch, dass er ihr das Gefühl des Hungers gibt, dadurch, dass sie ihn weiblich macht.
Aber tja, das sind Probleme, die manch anderer wohl lieber hätte, als die mit Finanzen, Beziehungen, Beruf. Und trotzdem stört es sie einfach. Dutzende Szenarien kreisen durch ihren Kopf. Szenarien, in denen andere wegen ihres Bauches über sie urteilen, Szenarien, in denen manche sie auslachen. Szenarien, in denen andere besseres erwarten, als sie selbst hergeben kann. Und das, obwohl sie sich sonst einen Dreck um die Meinung anderer schert.
Ein echt merkwürdiges Problem. Nicht wenige Menschen auf der Welt sehnen sich nach Essen, nach Bauch, nach Hüfte, entstanden durch ein wohlständiges Leben. Doch sie selbst hat lediglich Angst davor...Die Behandlung schlug letztendlich an, doch kam sie wieder...
Jetzt heißt es kämpfen.Seit vielen Jahren kämpft sie gegen sie an. Nach drei Jahren dachte sie, sie hätte sie endlich überwunden, diese Stimme. Diese miese fiese kleine Schlampe, die ihre Gedanken verdirbt und ihr die Augen verschließt. Die Augen vor der Wahrheit. Und nun kommt sie wieder. Gestärkt durch ihre Zeit der Zurückhaltung, gestärkt durch die schlechten Gedanken ihres Wirts, gestärkt durch ihre parasitäre Lebensweise, bei der sie sich von Angst ernährt: Purer Angst davor, an Gewicht zuzunehmen. Das Mädchen, das junge Mädchen kämpft weiter und weiter, doch ihre Kräfte ermüden. Sie kann nicht mehr, sie will nicht mehr kämpfen. Aber sie weiß genau, dass wenn sie ihren Schreien erliegt, die Stimme sie aus dem Leben zerren würde. Der Gedanke daran, dünn, nein, dürr zu sein, wird ihr immer verlockender. Der Gedanke daran, dünn, nein dürr zu sein, macht ihr Angst. Enorme Angst. Und je größer die Angst wird, desto mehr Nahrung hat die Stimme und je mehr Nahrung Ana hat, desto weniger Nahrung bekommt das junge Mädchen. Denn es will keine Nahrung mehr. Es will lediglich, dass diese lauten Schreie in ihrem Kopf aufhören, diese Rufe, die Beschimpfungen, es will lediglich, dass es endlich Frieden mit sich selbst hat. Endlich, nach so langer Zeit.
DU LIEST GERADE
Schlaf
Short StoryHier in dem Buch werde ich ein paar Kurzgeschichten veröffentlichen. Vielleicht kennt der ein oder andere ja auch dieses Szenario: Man hat eine kleine Idee und weiß, wie man diese beschreiben könnte, doch reicht diese nicht für ein komplettes Buch...