Sprachlos

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Er stand am Fenster. So wie jeden Abend. Er betrachtete das gegenüberstehende Gebäude, blickte in dessen Zimmerfenster. Auch in das, welches ihm genau gegenüberlag. Jenes, welches normalerweise immer leer war, in welchem normalerweise niemals Licht schien. Doch nicht diesen Abend. Diese lauwarme Oktobernacht zierte die Silhouette einer schlanken Frau die Jalousie des Fensters. Eine Silhouette, welche sich auf das Fenster zubewegte und die Gase dessen hochzog und es öffnete, um sich aus diesem zu lehnen und in die gegenüberliegenden Gebäudefenster zu blicken. Sie sah ihn, er sah sie. Beide wussten nicht, dass sie beide mehr verband, als nur die Lage der Zimmer. Sie winkte ihm zu, er lächelte. Er winkte zurück, sie lächelte. Dann taten sie beide den Mund auf, um sich ein einfaches ‚Hallo' zuzurufen, sie öffneten den Mund, beide formten sie schon das Ha mit ihren Lippen und beide hielten sie inne. Die Dämmerung blieb nahezu komplett ruhig, die Stille lediglich unterbrochen von gelegentlichem Brummen der Automotoren. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und machte eine kichernde Gestik, er grinste breit. ‚Warum redet sie nicht?', dachte er. ‚Warum spricht er nicht?', dachte sie. Dann deutete er auf die Uhr, die sein linkes Handgelenk zierte. Man hätte diese Gestik vielseitig deuten können, zum Beispiel, dass er sie frage, ob sie wüsste, wie spät es sei, warum sie nicht im Bett sei, obwohl es doch unter der Woche ist. Doch sie verstand, sie spürte, was er ihr sagen wollte. Er lud sie am nächsten Tag zum Kaffee zu sich ein. Ein Kaffee oder zwei, ein Keks oder zwei... vielleicht eine Umarmung oder zwei. Denn dass dies ein Wunsch beiderseits war, wusste keiner von ihnen, doch es wünschten sich beide inniglich.
Sie deutete mit dem Daumen aufwärts, was ihn zum lächeln brachte. Und dann verstand er, so wie sie verstand. Beide winkten sich zu, beide verschlossen das Fenster. Doch zuvor warfen sie sich gegenseitig etwas zu. Ein Winken oder zwei, vielleicht ein Kuss aus Luft oder zwei.
Der nächste Morgen war angebrochen. Er erwartete sie gegen 17:00Uhr, sie kam 16:30Uhr. Wie sehr er doch Überpünktlichkeit schätzte. Sie winkte ihm, er ihr, dann umarmten sie sich. Er nahm ihre Jacke, gab ihr Kaffee, dann einen zweiten, dann einen Keks, jedoch nur einen. Die Zeit verstrich; sie verstanden sich, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Wie hätten sie auch? Keiner von ihnen wäre dazu in der Lage gewesen. Und daran war nicht nur die Aufregung schuld. Er war ihre Leidensgenossin, schon seit Kindheitstagen, ebenso sie seine. Das Ende des Treffens kam, sie hakte sich bei ihm unter und er führte sie nach Gegenüber. Dann umarmte er sie und sie verabschiedete ihn. Doch der Abschiedskuss war kein solcher, wie ihn frisch Verliebte untereinander austauschten. Denn seine vorherig bestehende Vermutung bestätigte sich nun endgültig, als er einen Blick auf ihr Namensschild warf, welches dem seinem an seiner Wohnungstür komplett identisch war.

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