Als sie den Schulflur entlang ging, war sie wieder alleine. Tastend schlich sie durchs Dunkel ihrer Welt, den kühlen Stock fest umklammert. Es war ihr Wunsch gewesen, in der vertrauten Umgebung zu bleiben, ihre Bedingung, dass sie nur so eine Schule besuchen wolle. Diese Dunkelheit war ihr, auch nach so langer Zeit, noch so fremdartig, so neu; sie fürchtete sich. Und doch verlebte sie ihren Alltag so, wie alle anderen Schüler der Schule es taten. Alle waren auf irgendeine Weise besonders. Einige hochbegabt, andere minder, einige hochgradig agil, andere eingeschränkt - wie sie. An einem Tag stolperte sie durch den Schulflur, welcher für sie eigentlich freundlich umgestaltet worden war. Die anderen waren vermutlich schon fort und sie war wieder alleine. Bis auf das stetige Klacken ihres Stocks, hörte sie das sekündliche Ticken einer Uhr auf dem Flur. Diese hing über der Tür zu der Turnhalle. Zumindest vermutete sie, sich wage daran zu erinnern. Wenn Menschen, die an die lichte Welt gewöhnt sich, gezwungen sind, ihr Leben in Schwärze zu verbringen, verschwimmen ihre Erinnerungen ineinander und bilden neue Realitäten. So, wie es sich diese Person zum Beispiel schon immer vorgestellt hatte oder sich wünschte. So wird die objektive Realität im Kopf zu einer subjektiven Wahrheit einer Person. Eine Tatsache, die sie erst feststellte, als sie mit ihrer bloßen Vorstellungskraft und einem Sinn weniger allein gelassen wurde.
Und weil sie sich auch dem Ort der Uhr nicht mehr ganz sicher wahr, war sie sich ebenso wenig sicher, ob die seichten Töne, die sie hörte, tatsächlich der wirklichen Realität entsprachen. Sie hielt inne. Schwebende Quint- und Terzsprünge drangen an ihr Ohr, riefen sie zu sich. Den angenehmen Klängen lauschend, ließ sie ihre Hilfe, ihren schlechten Sinnesersatz, auf den kahlen Boden fallen, sodass die Töne für einen kurzen Moment von einem lauten Klirren übertönt wurden. Für einen kurzen, schrecklichen Moment glaubte sie, die Melodie sei verstummt. Ihr Herz stand still, sie hielt den Atem an. So sehr hatte sie sich noch nie auf etwas zu konzentrieren versucht, wie in diesem Moment. Sie spürte, wie etwas Warmes ihre Wange hinunter rann. Dann, sie hörte sie wieder. Sie wand ihren Kopf zur Seite, in die Richtung, aus welcher sie die Quelle der Musik vermutete. Dann schien sie zu schweben. Unbewusst trugen ihre Beine sie durch die langen Korridore, sie öffnete eine Tür, dann eine weitere, die Melodie wurde lauter und leiser, doch je näher sie kam, desto deutlicher wurden Dynamik und Melodie vernehmbar. Ihre Beine trugen sie weiter, bis...
Sie blieb stehen. Eine eicherne Holztür, die sie noch von den Klängen des Sinnes trennten. Mit ihrer dominanten, ihrer linken, Hand tastete sie nach dem stählernen Türgriff. Sie fand ihn sofort, ihr Herz pochte heftig in ihrer jungen Brust und sie drückte diesen hinunter. Die Pforte stand offen und die Klänge verstummten. Ihre Wangen glühten. Sie hörte ein leises Knirschen, mehrere Schritte, die mit bedacht gesetzt wurden. Eins... zwei... drei... vier... fün- Eine warme Hand umfasste ihre Kühle sanft, ebenso sanft, wie diese Hand die Tasten den Klaviers gestreichelt hatte, und zog sie mit sich. Die Hand war weich, aber der Druck auffordernd fest. Sie taten Schritte. Eins... zwei... drei... vier... fün- Die Hand ließ die ihre los, strich ihren rechten Arm entlang und legte sich auf ihre Schulter. Eine andere Hand tat ihr dies auf der linken Schulter gleich. Sie spürte nun einen leichten Druck auf sie einwirken und sie vertraute den sanften Händen, ließ sich fallen. Ein gepolsterter Sitz fing sie auf, jemand nahm direkt neben ihr Platz, legte seine sanften Hände auf das Klavier und begann zu spielen. Diese Melodie. So sanft, so harmonisch. So kompliziert in ihrer Einfachheit. Wieder wurde ihr Gesicht heiß und etwas Warmes floß ihre Wange entlang. Die Hände hörten auf zu spielen, sie hörte sich schluchzen, dann spürte sie einen Finger an ihrem Gesicht, der ihr seicht über dieses strich. Eben diese Finger gehörten zu der Hand, die dann ihre Hände zum Klavier führten. Sie tastete zögerlich nach dessen Tasten, fand sie, beließ sie in der von der fremden Hand, (nein, die Hände waren vertraut, ihre Berührung war vertraut - die dazugehörige Person war fremd) vorgegebenen Position. Und dann spielte sie. Sie spielte die Melodie, die sie die ganze Zeit gehört hatte, von welcher sie die ganze Zeit geträumt hatte, welche eine solch immense Stärke besaß, sie sogar die Tasten des Klaviers sehen zu lassen! Die warme Hand, welche auf einer ihrer Schultern ruhte, während sie spielte, glitt langsam von ihr ab. Ein Knarren erklang, sie spielte weiter. Schritte erklangen. Eins... zwei... Sie spielte weiter. drei... vier... Weiter und weiter. Fün-... Und weiter. Das Klicken des Türschlossen war zu hören, doch sie ließ sich nicht beirren, war versunken in der Musik, jede Note trug sie zur anderen, jeder Ton stellte eine Überleitung zum nächsten da. Die vertraute, warme Hand ruhte nicht mehr beschwichtigend auf ihrer Schulter, sie war fort. Und doch war sie nicht länger allein. Denn ihre dunkle, kleine Welt war nun erfüllt. Erfüllt von der Musik.
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Schlaf
NouvellesHier in dem Buch werde ich ein paar Kurzgeschichten veröffentlichen. Vielleicht kennt der ein oder andere ja auch dieses Szenario: Man hat eine kleine Idee und weiß, wie man diese beschreiben könnte, doch reicht diese nicht für ein komplettes Buch...