Gesichtslos

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Wie sehr hatte sie sich den Moment herbeigesehnt. Neun, fast zehn Monate hatte sie auf diesen Augenblick gewartet (ihr Kleiner hatte es sich ein wenig zu gemütlich in ihr gemacht) und nun war er da. Sie hielt den kleinen Jungen in den Armen und betrachtete ihn. Sein kleines Gesicht, die kleinen Hände, der flaumige Haarschopf. ‚Ein wunderschönes Kind.' Sie stellte sich ihre Mutter vor, wie sie wohl damals bei ihrer Geburt reagiert hatte. Die Krankenschwester, die ebenfalls schon eine zweimalige Mutter war, dachte an die Geburt ihrer Kinder zurück und fühlte für einen kurzen Moment wieder dieses befriedigende, überglückliche Gefühl, welches eine jede Mutter nach der gut verlaufenden Geburt ihres Kindes empfindet.
Alle, außer sie. Sie schaute auf ihren Erstgeborgenen und empfand, sie wunderte sich selbst darüber, nichts. Sie dachte, dass dies vielleicht normal wäre, vielleicht ist sie noch erschöpft von der Geburt, verwirrt, aufgeregt? Aber nein. Stunden vergingen. Zur Nacht wurde der Kleine mitgenommen und in sein Bettchen gebracht. Zum Morgen ihr wiedergegeben. Die ganze Zeit über schlief er tief und fest. ‚So ein ruhiges Kind.' Doch dann wachte er auf. Seine intelligenten kleinen Augen musterten die ihren. Die Zeit schien ineinander zu verschwimmen und blieb schlussendlich für sie stehen. In diesem Moment existierte kein einziger der draußen hetzenden Ärzte, kein einziger der vor dem Gebäude werkelnden Bauarbeitern erzeugter Laut, nicht ein Geräusch, der das Spiel zwischen ihnen beiden störte. Sie sah in seine blauen, er in ihre braunen Augen und was sie sah, war eine Gesichtslose. Was war dieses Wesen in seinen Augen? Ein Monster ohne Gesicht, eine Dämonin? Für ihn war sie ein Engel, doch sie für sich lediglich dieses gesichtslose Wesen, welches nichts anderes mehr empfinden konnte, als pure Liebe für seine Augen. Und nur seine Augen.

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