Fröstelnd saß sie auf dem zugefrorenen, feuchten Boden. Schneeflocken rieselten leise auf sie hinab, während sie sich, starr vor Kälte, fast nicht rührte. Sie wurde gelegentlich von abruptem Zittern überrasch, welches ihren kompletten Körper umfasste. Ihre dünnen Arme umschlangen ihren, in abgenutzte Kleidung eingewickelten, Körper, die einzigen Stellen, die ihre spröde und zerrissene Haut zeigten, waren ein abgerissener Zeigefinger ihres linken Handschuhs und die Partie um ihre stahlblauen Augen herum, welche ihren einmaligen, aufgeweckten Glanz schon seit Ewigkeiten verloren hatten. Doch auch wenn die Augen glanzlos schienen, waren sie wachsam. Aufmerksam beobachtete sie das rege Treiben auf den Straßen der Stadt. Autos fuhren an ihr vorbei, einige Motoren protestierten im ersten Moment, Menschen fluchten, eilten, um schnell nach Hause ins Warme zu kommen.
Durch die drängenden Massen auf den Wegen, wenn sie sich recht erinnerte, dürfte bald Weihnachten sein, fiel ihr der Mann, welcher den Discounter von der gegenüberliegenden Straßenseite verließ, zuerst nur als einer von vielen auf. Sein edler Wintermantel war eng zugeknüpft, sein Hals von einem modischen Rundschal umwunden und seine glänzenden Lederhandschuhe umklammerten ein paar wenige kleine Kärtchen. An seinem Mittel- und Zeigefinger hing eine kleine Tüte. Er zog mit seiner freien Hand einen Schlüssel aus der rechten Manteltasche und betätigte einen Knopf, sodass ein modisch geschnittener Neuwagen (sie vermutete, es war ein BMW, aber sie wusste es nicht mehr genau... warum sollte sie auch) seine Lichter aufblinken ließ. In dem Kofferraum des Autos verstaute er die Tüte, doch anstatt schnell einzusteigen, wie es alle anderen Menschen in dieser Jahreszeit taten, um schnellstmöglich den fesselnden Klauen der Kälte zu entfliehen, blickte er auf die Karten. Es waren drei... nein, vier. Vier Kärtchen, etwa so groß, wie diese Zettelchen, die man Briefen vor dem Absenden anheftete. Sie glaubte, sich zu erinnern, dass diese Briefmarken oder dergleichen heißen. Doch diese Information war belanglos für sie. Denn in diesem Moment waren ihre musternden Augen voll konzentriert auf den ernst dreinblickenden Mann gerichtet. Dieser nahm den Schlüsselbart und kratzte auf dem Ersten herum. Sie hörte ein leises Murmeln, der Mann nahm das Zweite und zerkratzte auch dieses. Wieder ein Murmeln, dieses Mal begleitet von einem kleinen wütenden Tritt gegen den Reifen. Er ließ die ersten beiden fallen und machte sich über den Dritten her. „Ach scheiß drauf!", schrie der Mann erbost auf. Sofort schmiss er alle Kärtchen auf den Boden. „Nie hab ich auch nur einen Funken Glück! War ja klar..." Ein Handygeläut durchbrach seinen lauten Gedankengang und er unterbrach diesen. „Ja, Schatz? Was ist denn?" Er wurde hektischer. „Na klar, ich bin gleich zu Haus. Sag ihm, noch etwa 10 Minuten. Ich liebe Dich." Sofort stieg er in das Auto, dieses protestierte allerdings nicht, und fuhr die Straße entlang hinfort. Eine kleine Weile verging. Mit der Abenddämmerung zog auch ein leichter Wind auf. Dieser trug die weggeworfenen Zettel des Mannes näher an ihren Platz. Zurückhaltend und doch zielstrebig landeten diese genau vor ihr, genau in ihrem Sichtfeld. „GEWINN" prangerte ein großer Schriftzug am oberen Rand der jeweiligen Zettel. Daneben etwas kleiner und dezenter. „oder Niete - etwas Glück ist gefragt!"
Darunter Felder, auf welchen Zahlen abgebildet waren. Auf den ersten drei Zettel waren die Zahlenfelder bereits freigegeben. Keine Zahl glich einer anderen. Selbst wenn dem so wäre...
Der letzte Zettel gab sein Geheimnis noch nicht preis. Auch, wenn sie dachte, dass ihr sämtliche Form der Neugierde bereits vollkommen abhanden gekommen waren, wurde sie nun doch von dieser überrascht. Sie spürte ein leises Knirschen in ihrem Ellenbogengelenk, als sie den Arm ausstreckte und nach den Karten griff. Aufgrund der Bewegungsarmut des Tages zitterte ihre Hand nun noch stärker, als wenn sie nur von Kälte erfasst wurde. Ihre knochigen Finger schlossen sich um die klammen Karten, ein wenig eiskalter, nasser Schnee sammelte sich unter ihren Fingernägeln, schmolz langsam und ließ die Karten noch feuchter werden. Sie zog diese näher zu sich heran und betrachtete sie. Der Mann hatte auf den Karten herumgekratzt. Die zuvor grauen Felder waren weiß mit schwarzen Zahlen bedruckt, Karte vier behielt ihr graues Kästchen bei. Sie legte die ersten drei beiseite und widmete sich jener. Mit ihrem Fingernagel begann sie, das Feld frei zu kratzen. Eine Zahl erschien im ersten Kasten: 20€. Ein eiskalter Schauder erfasste sie und aufgrund der herankriechenden Dunkelheit, freute sie sich über den schwachen Schimmer der Straßenlaterne. Feld zwei und drei enthüllten ihre Geheimnisse. 10000€ und 25€. Sie musste schmunzeln, sie selbst wusste nicht wieso. Feld eins der zweiten Reihe zeigte erneut 10000€. Es war so lange her, dass sie eine Zahl mit so vielen Ziffern sah, dass sie ihre Bedeutung schon kaum noch zuzuordnen wusste. Ihre Finger wurden taub und steif, ihre Augen tränten und die Tränen schienen an ihren bleichen Wangen zu gefrieren. Über das fünfte Feld kratzte sie nur rasch rüber, es zeigte 30€. Sie wurde merkwürdig müde. Ihre Augen schlossen sich kurzweilig. Sie streckte mit dem Kopf hoch. Sie wollte nur das Geheimnis der Karte enthüllen, dann würde sie schlafen und ihr Leben weiterleben. Sitzend, zitternd, hungernd, bettelnd. Wieder ein kurzer Ratscher und erneut eine Eins gefolgt von vier Nullen. Auf merkwürdige Art und Weise freute sie sich nun. Sie wollte die Karte beiseite legen, doch brachte sie die Kraft dazu, ihre Hand zu bewegen, nicht auf. Deswegen stand ihr Arm starr vor ihr in der Luft und präsentierte ihr die Karte. „Ich kann halt nicht immer Glück haben.",dachte sie müde, während ihre Augen sich schlossen und sie anfing, die stechende Kälte nicht mehr wahrzunehmen. Die Frau schlief ein, es schneite und am nächsten Morgen war sie nicht mehr als ein Schneehaufen, aus welchem die Ecke eines kleinen Kärtchens herausragte. Dieses umklammert von eiskalten Stöckern.
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Schlaf
Short StoryHier in dem Buch werde ich ein paar Kurzgeschichten veröffentlichen. Vielleicht kennt der ein oder andere ja auch dieses Szenario: Man hat eine kleine Idee und weiß, wie man diese beschreiben könnte, doch reicht diese nicht für ein komplettes Buch...