Er hörte Schüsse.
Kugeln zerschlugen die Scheiben des Hubschraubers wie Papier und peitschten durch den Innenraum.
Schon hatte eine Kugel Finn Smith an der Schulter getroffen und seine Schmerzensschreie fluteten den Helikopter. Ian musste nun auf seinen Militär-Modus umschalten.
Mindestens drei Scharfschützen hatten den Hubschrauber unter Beschuss.
Schnell flog er eine gekonnte Wende, als ihm plötzlich unerwartet ein Querschläger in den Oberschenkel jagte. Auch er schrie nun vor Schmerz doch versuchte gleichzeitig, sich noch auf das Fliegen zu konzentrieren.
Eine Kugel zerschmetterte Finn Smith's Helmvisier und Blut spritze heraus, direkt auf die Armatur des Hubschraubers.
Und dann, ganz plötzlich, wurde Finn Smith zu Nick Watson.
Nick Watson, Ian's Verlobter, Nick Watson, der diesen Angriff nicht überleben würde.
Nick Watson, der seit über zwei Jahren tot war.
Ian Walker wachte schweißgebadet auf. Schreckliche Schmerzen zuckten wie grelle Lichtblitze durch seinen Körper, Schmerzen von seinem Lauf den Berg hinunter vor einigen Tagen. Schmerzen im Rücken, Schmerzen in der Brust, Schmerzen im Kopf, nichts als Schmerzen.
Er schloss die Lider, um das hohe Piepen aus seinem Gehör zu vertreiben und presste sich die Fäuste auf die Augen.
Das Licht, welches durch die staubigen, schweren Vorhänge fiel, verschlimmerte sein Unwohlsein nur.
Der Tremor an seiner linke Hand war zurück. Im Krankenhaus hatten sie es als psychische Nebenwirkungen beschrieben, die mit der Zeit verschwinden würde. Nach gut zwei Jahren war Ian das Zittern jedoch immer noch nicht losgeworden, es hatte sich eher verschlimmert. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen.
Zum Glück hatte es bei der Küstenwache noch niemand bemerkt, denn mit dieser Hand dürfte er wahrscheinlich eigentlich keinen Helikopter mehr steuern.Mit seiner stabileren rechten Hand griff er nun blind nach der Tablettenschachtel auf seinem Nachttisch und versuchte so schnell wie möglich vier der 600mg Paracetamolkapseln aus dem Blister zu drücken.
Die Zeit, die er dafür benötigte kam ihm unendlich lang vor. Als er es endlich geschafft hatte, warf er alle auf einmal in den Mund, doch seine Kehle war so trocken, dass er nur laut keuchend husten musste.
Immer noch geblendet, stand er ruckartig vom Bett auf. Eine stärker Drehschwindel setzte kurz darauf ein und Ian sah silbrige Punkte auf der knarrenden Eichentür glitzern. Seine blasse Hand klammerte sich am Türrahmen fest, mit der anderen stützte er sich auf seinen Oberschenkel.
Noch halb in seinem Albtraum dieser Nacht gefangen war er doch sehr erleichtert, als er Ginger's feuchte Nase an seinem nackten Knie spürte. Langsam öffnete er die Augen weiter und legte ihr die Hand auf den Kopf, um sie kurz zu streicheln.
Direkt danach griff er hastig nach der abgestandenen Wasserflasche, die auf der kleinen Kommode in dem winzigen Flur stand und trank sie mit einem Zug aus. Außer Atem ließ er sich dann an der Wand hinuntergleiten und wartete eine Weile auf die Wirkung der Tabletten.
Als die Schmerzen durch das Paracetamol etwas betäubt worden waren, stand Ian langsam auf und begab sich zurück in sein Schlafzimmer. Schwerfällig zog er die dicken braunen Vorhänge mit einem Quietschen auseinander und öffnete seinen Schrank. Halbherzig warf er eine alte Hose, die durch einen Sturz ein großes Loch am Knie hatte und ein weißes T-Shirt zusammen mit einem alten, grauen Pullover seiner damaligen Highschool Rugby Mannschaft auf sein Bett.
Er bemerkte noch leichte Schmerzen im Rücken, als er sich anzog und seine Gedanken glitten schon zur heutigen Untersuchung. Und plötzlich bemerkte er, dass er Angst hatte. Doch Ian Walker war ein Soldat.
Er sollte keine Angst haben, das redete er sich stets ein.Nachdem er sich angezogen hatte, klammerte er sich nun am Anfang des Treppengeländers fest. Schwankend musste er seinen Blick einen Moment fokussieren, um die Treppenstufen klar erkennen zu können, dann ging er sie eine Stufe nach der anderen hinunter, Ginger lief ihm hinterher. Nach den ersten Stufen hatte sie sich jedoch schon an ihm vorbeigedrängt und lief nun vorweg.
Unten angekommen setzte er wie jeden Morgen das chlorhaltige Wasser für einen schwarzen Kaffe auf und sah schweigend zu, wie der Dampf an die Decke stieg.
Ginger bellte, als eine einsame Blaumeise auf dem mit Tau überzogenen Fensterbrett landete und ein kleines Liedchen trällerte.
Ian's Kaffee war fertig.
Er setzte sich an den wackeligen Tisch in der Küche, an dem nur ein Stuhl mit ausgeblichenem Polster stand.Zum Frühstück aß er nur eine Banane und trank seinen schwarzen Kaffee. Im Irak hatte es zum Frühstück genau das gleiche gegeben. Der Stützpunkt war ausgeraubt worden und so hatten sie Rationen sparen müssen. Es war eine Gewohnheit, er würde nie aufhören, es anders zu machen, er konnte es jetzt nicht mehr ändern. Ian würde es sich nicht eingestehen, aber vielleicht machte er es auch, um sich zu zeigen, dass er noch der gleiche, starke Soldat war wie früher. Und vielleicht wollte er es auch Nick Watson zeigen.
Der letzte Schluck Kaffee war schnell getrunken, die Banane schnell gegessen. Er spülte seine einzige Tasse ab und die Bananenschale ließ er in den knisternden Müllsack fallen. Eigentlich mochte er kein Plastik, doch ohne den farbigen Sack nahm die städtische Müllabfuhr den Müll nicht mit, selbst wenn er ihn wie vorgesehen an der ungefähr ein Meile entfernten Hauptstraße deponierte. Bis zu seinem Haus würde die Müllabfuhr sowieso nicht kommen, schließlich lebte er quasi irgendwo im nirgendwo, die nächsten Nachbarn waren ebenfalls gut 1 Meile entfernt.
Er schnalzte und Ginger folgte ihm. Dann zog er seine Doc Martens und seinen dunklen Mantel an, öffnete die Tür. Ein kühler Wind pfiff hinein, brachte ein paar getrocknete Lavendelblüten von dem anliegenden Feld mit. Als er nach seinem Autoschlüssel griff, nahm er vorsichtshalber auch Ginger's Leine mit, falls er sie im Krankenhaus sonst nicht bei sich behalten durfte. Doch eigentlich war die Leine unnötig, Ginger verhielt sich mit genauso wie ohne.
Für sie öffnete Ian nun die Beifahrertür, damit sie in den Landrover springen konnte. Der Beifahrersitz war extra mit einer rötlichen Decke, die schon sehr ausgefranst war, bedeckt. Ian schlug die Autotür mit einem lauten Scheppern hinter Ginger zu und stieg selbst ein.
Seine linke Hand begann wieder zu zittern, tief in seinem inneren verspürte er eine Angst, die er nicht spüren wollte, für die er sich hasste. Er ballte seine Hand einmal zur Faust, bewegte kurz die Finger und dann fuhr er los.
Nach Dublin brauchte er heute nicht mehr als 40 Minuten, die Straßen waren seltsam frei. Die ganze Fahrt über war es still im Auto, er fühlte sich so leer, wollte sich nicht ausmalen, wie der Kontrolltermin für ihn enden könnte.
Als er sein Auto dann tatsächlich auf den großen, geschäftigen Parkplatz vor dem Dublin Central Hospital abstellte, blieb er noch kurz im Auto sitzen und beobachtete das große Gebäude, welches von Außen wie ein riesiger Ameisenhaufen wirkte.
Ginger kam vom Beifahrersitz unsicher über die Handbremse zu ihm auf den Schoß gelaufen und Ian vergrub das Gesicht in ihrem Fell. Ihr warmer Atem strich über seine Hände.
Das Problem war, dass Ian eigentlich genau wusste, dass er in seinem Zustand nicht bei der Küstenwache arbeiten durfte. Doch ohne diesen Job konnte er nicht leben. Er gab ihm die Luft, die er zum Atmen brauchte, er war seine unsichtbare Verbindung zu Nick Watson, zu dem Mann, den er so sehr geliebt hatte.
DU LIEST GERADE
Helicopter Heart
RomanceIan ertrinkt. In einem Meer aus Wut und Trauer, aus zerrissenen Beleidskarten und Hundefutter in Dosen, in den sanften Berührungen des ehemaligen Militärarztes Dr. Marcus Young und in den Augen von Liam, dem gehörlosen jungen Mann, der ihn so an sei...