seven

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Olivia öffnete die Tür.

Das Haus wirkte so ruhig, so friedlich, so leer. Erinnerungen erschienen vor ihren Augen.

Sie war in der fünften Klasse gewesen, Aiden in der zweiten. Sie hatte wie heute die Tür geöffnet und Aiden war ihr schon entgegen gerannt gekommen. Als er sie breit angrinste, hatte sie bemerkt, dass ihm ein Stück seines Eckzahnes fehlte.

"Was ist mit Aidens Zahn passiert?", hatte sie ihre Mutter gefragt, die ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn gab.
Ihre Mutter seufzte.

"Wahrscheinlich hatte er wieder einen dieser seltsamen Anfälle und ist hingefallen... Es hat aber niemand gesehen. Und er erinnert sich natürlich nicht. Hoffentlich finden sie bald heraus, was ihm fehlt..."

Die Erinnerung verschwand langsam.

Olivia hatte jetzt schon Angst, den Abend und die Nacht allein zu verbringen in dem Haus, was nach Aiden roch, in dem jedes kleine Detail seine Persönlichkeit unterstrich.

Sofort ging sie in sein Zimmer, denn doch wollte sie so viel wie möglich von ihm sehen. Es war wie früher. Klamotten lagen herum, das Klavier vor dem Fenster, das riesige Bücherregal an der Wand, der alte Schreibtisch in der Ecke. Das Bett war nicht gemacht, typisch Aiden. Solche Sachen hatte er schon immer als unwichtig deklariert. Stattdessen waren die Bücher alphabetisch nach Autoren und Erscheiniungsdatum geordnet. Auf sowas achtete er dann natürlich, aber seine Wäsche musste Olivia ihm wie eine Mutter hinterhertragen. Kurz lächelte sie ein wenig traurig und sammelte dann wie automatisch die achtlos hingeworfenen Klamotten vom Boden auf. Übermorgen würden sie frisch gewaschen und gefaltet auf seinem Bett liegen, auch wenn er nicht da war, um sie anzuziehen.
Daran dachte Olivia jedoch nicht.

Gerade war sie damit beschäftigt, Aidens Bettdecke auszuschütteln, als ihr Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer.

"Olivia McTaylor?", meldete sie sich und musste sich direkt danach räuspern. Seit sie vom Krankenhaus weggefahren war, hatte sie nichts mehr gesagt, ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch.

"Hallo..."

Die Stimme am anderen Ende war männlich, hatte einen markanten Klang, wie die vibrierende Seite eines Kontrabasses. Jedoch hörte sie sich etwas erschöpft an.

"Wer ist da?", fragte Olivia leicht genervt. Warum konnten manche Leute nicht einfach ihren Namen sagen? Aiden tat das immer, korrekt wie er war, auch wenn sie seine Stimme unter Tausenden erkennen würde.

"Matthew O'Connor."

Die Stimme nahm in Olivia's Kopf plötzlich Gestalt an. Sie wurde nervös.

"Haben Sie ein neues Diensthandy?", fragte sie dann verwundert, denn eigentlich hatte sie ihn eingespeichert.

"Nein."

Wieder zögerte er kurz.

"Dies ist meine private Nummer."

Es herrschte eine Weile Stille. Olivia war unsicher. Sollte sie ihm auch ihre private Nummer sagen? Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Plötzlich ergriff er wieder das Wort.

"Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob sie vielleicht Lust hätten...etwas mit mir trinken zu gehen."

Er atmete schwer aus, als hätte ihn diese Frage viel Überwindung gekostet.

"Oh... Ja klar!"

Der Versuch, nicht allzu erfreut zu klingen, war kläglich gescheitert. Am anderen Ende hörte Olivia Matthew leise aber erleichtert auflachen. Plötzlich konnte sie dort auch eine Stimme hören. Etwa seine Frau? Oder war es gar eine Kinderstimme?

"Ich komme gleich, Schatz", hörte sie ihn nur warm und gleichzeitig dumpf antworten, als hätte er seine Hand über das Mikrofon des Handys gehalten.

Hatte er etwa eine Freundin oder sogar eine Frau und wollte nun fremdgehen? Olivia versuchte, sich diesen schrecklichen Gedanken auszureden. Wenn er eigentlich eine Frau hatte, könnten die beiden sich ja nicht einfach so bei ihm zu Hause treffen.

"Ach ja, wollen wir uns in der Edelleth Bar treffen?", fragte er plötzlich.

Olivia's böse Vorahnung verfestigte sich. Doch sie wollte es wenigstens mit ihm probieren. Vielleicht wäre er ja auch bereit, sich zu trennen, falls es mit ihnen etwas Ernstes werden würde, falls er überhaupt eine Frau hatte.

"Ich bin heute ehrlich gesagt gar nicht in der Stimmung für eine Bar. Vielleicht haben sie es gehört, mein Bruder..." Sie seufzte kurz. "Wie wäre es, wenn Sie zu mir nach Hause kommen?", fügte sie dann einfach hinzu.

"Oh... Okay, wenn Ihnen das lieber ist... Wo wohnen Sie denn?"

Schon jetzt überlegte Olivia, wo sie noch überall aufräumen musste und antwortete leicht abwesend: "Rosehillstreet 115."

"Was halten sie von nächstem Samstag, gegen sechs Uhr?"

"Das passt mir gut, bis dann."
In Olivias Stimme schwang etwas mit, das Matthew nicht deuten konnte. War es Skepsis? Angst?

"Bis dann", antwortete Matthew und legte auf. Er lachte glücklich und ein leises "Yes!" konnte er sich auch nicht verkneifen.

"Was machst du denn da?!", fragte plötzlich eine vorwurfsvolle Stimme.

Erschrocken zuckte er zusammen und drehte sich um.

"Nichts, Schatz, es ist alles gut. Ich...habe mich nur über ein Football Ergebnis gefreut."

"Mhm."

Sie verschränkte die Arme und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

"Das klang für mich aber nicht so."

"Ach Schatz, du bist doch mein ein und alles. Und du wirst es immer bleiben."

Sie lächelte zufrieden und er gab ihr einen Kuss.

Währenddessen versuchte Ian zu verstehen, was ihm kürzlich im Krankenhaus passiert war. Ein komatöser Mann hatte zu ihm gesagt, er habe schöne Augen.

Ihm fielen nur zwei mögliche Erklärungen für dieses Szenario ein. Entweder, die Überdosis an Medikamenten hatte ihn haluzinuieren lassen oder er war inzwischen komplett verrückt und vereinsamt, sodass er Leute reden hörte, obwohl sie im Koma lagen und einen Luftröhrenschnitt hatten.

Kopfschüttelnd erhob er sich vom Sofa und ging zwei schnelle Runden durchs Wohnzimmer, bevor er sich dann schließlich überwand, nach dem eingestaubten Geigenkasten hinter dem Sofa zu greifen. Bisher hatte er immer Angst gehabt, Geige zu spielen, war stattdessen auf seine Gitarre ausgewichen. Zu oft hatte sich ein Bild seiner Finger in seine Gedanken geschlichen, wie sie dem Tanz mit den filigranen Seiten zitternd nicht mehr gerecht wurden. Bei der Gitarre war es etwas anderes, es war okay, wenn er mal eine Seite nicht genau traf, doch bei der Geige zählte äußerste Präzision, die ihm seine Finger seit dem Absturz nicht mehr bieten konnten.

Trotz sämtlicher Argumente, die dagegen sprachen, ölte er den Bogen und klemmte das feine Holzinstrument unter sein Kinn. Ginger blickte ihn mit schräg gelegtem Kopf an, als er versuchte, sich an Beethovens 9.Symphonie zu erinnern.

Als die Griffe und Bewegungen langsam sein Gehirn fluteten und zu seinen Fingern getragen wurden, begann er einfach zu spielen. Die Melodien flossen nur so, die Seiten knarrten anfangs und gaben ein paar schiefe Töne von sich, doch dann harmonierten sie schließlich wieder mit seinen Fingern und sein Körper wurde eingenommen von der Musik. Er erinnert sich an das Hochgefühl.

Nick Watson erschien plötzlich wieder vor ihm.

Ich liebe es, wenn du Geige spielst, Walker. Du blickst dann immer so konzentriert ins Nichts. Du bist wie ein riesiger Baum, so als könnte kein Wind dich stürzen, kein Sturm dich entwurzeln.

Dann hatte er eine kurze Pause gemacht und ihn angeblickt. Nicht nur in die Augen, sondern direkt ins Herz.

Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist, Walker?

Die Erinnerungen an Nick zerrissen Ian von innen und doch spielte er weiter. Spielte bis sein Kinn schmerzte, Ginger schon längst schlief, erste Sonnenstrahlen ihre feuchte Nase streichelten und dunkelrotes Blut über seine Finger lief.

Helicopter Heart Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt