five

227 21 3
                                    

"Ian Walker, ich habe einen Termin bei Dr.Quinn. Um elf."

"Krankenkassenkarte?", fauchte die Frau hinter dem Counter förmlich.

Das Licht blendete ihn etwas und er hatte das Gefühl, sie war unzufrieden, dass er Ginger dabei hatte.
Ian schob die Karte über den Tresen.

"Ach Sie sind's. Sie können ja bald hier übernachten und die Krankenkasse zahlt den Spaß", stellte sie mit einem genervten Unterton fest.

Langsam wurde Ian wütend, in letzter Zeit spielten seine Gefühle verrückt.

"Ausgesucht habe ich's mir nicht, okay?!"

Mit festem Griff packte er die Krankenkassenkarte und schob sie harsch in sein Portemonnaie zurück.

"Einmal ins Wartezimmer bitte. Dr.Quinn hat momentan noch etwas Wichtigeres zutun."

Ian schnaubte.

"Klar", antwortete er verärgert.

Der Umgang mit ihm machte ihn wütend. Er hatte es sich nicht ausgesucht, dauernd Kontrolltermine haben zu müssen. Frustriert schnalzte er und Ginger folgte ihm ins Wartezimmer.

Ian war der Einzige, der nun auf einem der unbequemen, wackeligen Stühle in dem spärlich eingerichteten Raum Platz nehmen musste.

Uninteressante Zeitschriften lagen auf dem 50€-Ikea-Glastisch in der Mitte und das dunkle Linoleum war an einigen Stellen verblichen und förmlich abgeschliffen, so viele Leute waren schon darüber gelaufen.

Seit dem Unfall versank Ian häufiger in Gedanken als sonst, so auch, als Dr.Quinn den weißen Raum betrat.

Sie war eine stattliche Frau Anfang vierzig, mit einem grau-braunen Knoten am Hinterkopf und einer strengen Brille. Doch als sie in Ian's Augen blickte, lächelte sie warm.

Ian stand langsam auf, gab Ginger einen leichten Klapps, damit sie auch aufstand und dann schüttelte er Dr.Quinn die Hand.

"Guten Tag Mr.Walker!"

"Guten Morgen Dr.Quinn", antwortete er und es fiel ihm schwer, sie direkt anzublicken.
Gerade jetzt wollte sich sein Blick plötzlich nicht mehr fokussieren, dazu kamen Schmerzen in der Brust und wieder dieser Tremor. Er stützte sich am Stuhl ab, hielt einen Moment inne und atmete geräuschvoll aus.

"Ist alles in Ordnung, Mr.Walker?", fragte Dr.Quinn, sie klang fast besorgt.

Manchmal hatte es sich angefühlt, als wäre sie eine zweite Mutter, besonders zu den Zeiten, als Ian einfach nur wahnsinnig verzweifelt gewesen war.

Er nickte, schob die zitternde Hand in die Manteltasche.

Sie sah ihn nochmal kurz prüfend an, dann drehte sie sich um und ging auf das Behandlungszimmer zu. Ian folgte ihr, Ginger lief dicht neben ihm.

In dem hellen Raum befand sich ein Fenster, welches zum Park zeigte. Man konnte mehrere Leute in der leichten Herbstsonne durch die spärliche Natur spazieren sehen, dann zog Dr.Quinn den lichtdurchlässigen Vorgang zu.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, auf dessen anderer Seite Ian schon Platz genommen hatte.

"So Mr.Walker..." Dr.Quinn blickte kurz auf Ginger, die sich sofort entspannt neben Ian's Füße legte.

"Wie geht es Ihnen heute?", fragte sie. Ian bemerkte, dass sie ihn nicht dutzte wie sonst immer.

"So wie immer" war seine neutrale Antwort.
So wie immer.
Jedes verdammte mal.

"Hm..." Dr.Quinn schien mit der Antwort nicht zufrieden.

Berechtigterweise.

"Mussten Sie in den letzten 24 Stunden Schmerzmittel einnehmen?"

Das 'Sie' verfremdete das Gespräch ungewohnt und Ian schwieg. Er hatte Gestern insgesamt vier Schmerztabletten genommen und heute Morgen nochmal drei. Aber sollte er ihr das wirklich einfach ins Gesicht sagen?

Er entschied sich für ein gedehntes Zustimmen, welches Dr.Quinn jedoch natürlich nachhaken ließ: "Wie viele denn?"
Sie fragte es fordernd, beinahe ungeduldig, als hätte sie diese Information selbstverständlich dazu erwartet.

"Ich... bin nicht sicher..."

"Dann müssen es ja einige gewesen sein."

"Nein, sicher nicht, ich habe Gestern vormittag eine genommen, aber das konnte auch schon über 24 Stunden her sein..."

Sie seufzte.

"Ian..."

Dass sie ihn plötzlich wieder dutzte, beruhigte ihn irgendwie etwas, doch er wusste auch, dass er sich jetzt nur noch schwerer aus dem Lügennetz befreien konnte.

"Muss ich dir erst Blut abnehmen um zu erfahren, wie viele es wirklich waren?"

Ian senkte den Kopf. Er antwortete nicht.

"Ich weiß nicht, ob unsere Beziehung schon zu eng ist, weil wir uns zu lange kennen, ob du deswegen häufiger ein schlechtes Gewissen hast und mir Dinge verschweigst, ich weiß es wirklich nicht. Aber dir muss klar sein, dass du gezwungen bist, den Arzt zu wechseln, wenn sich dieser Verdacht bei mir noch weiter festigt. Und das tut er gerade, denn du lügst, Ian."

Er sah zu Ginger. Sie blickte ihn nun an, ihre großen braunen Augen voller Vertrauen und Liebe. Dann hob er den Kopf und sah in Dr.Quinn's braune Augen.

"Es waren vier."

Wenn sie geschockt oder wütend auf ihn war, ließ sie es sich definitiv nicht anmerken. Stattdessen sah sie ihn einfach an, er konnte erkennen, dass sie versuchte, neutral zu sein, jegliche Emotionen zu verbergen.

"Ian. Das geht nicht. Ich weiß, dass es immernoch schwer für dich ist, aber-"

"Das ist nicht wahr!"

"Wie bitte?"

"Das ist nicht wahr, habe ich gesagt. Sie wissen doch gar nicht, ob es schwer ist! Hören Sie auf! Ich leide nicht dramatisch, ich bin nicht traumatisiert und ich habe auch keine psychischen Symptome und Schmerzen! Es geht mir gut, ich bin wieder gesund!"

Wut brodelte in ihm hoch. Er bemerkte, wie er fast schon etwas gemein ihre Stimme nachäffte und im selben Moment schämte er sich für sein Verhalten. Er wendete den Blick ab.

"Ich weiß, dass du manche Sachen nicht zugeben willst, Ian, aber du musst dir doch wenigstens eingestehen, dass du nicht mehr der starke, fitte, emotionslose Soldat mehr bist wie früher! Du konntest über eineinhalb Jahre nicht laufen, du hast hier gelegen und ich habe dich weinen gesehen, du hast geschluchzt, ich habe dich Schreien hören, Brüllen vor Schmerz, sowohl körperlich, als auch tief in dir drin. Dein Verlobter ist gestorben, Ian! Du kannst nicht einfach so tun, als wäre das alles nicht passiert!"

"Doch."

Nun sah er wieder hoch. Ein kühles Gefühl breitete sich in ihm aus, ein Gefühl von früher. Und es tat so gut.

"Vielleicht können Sie das nicht. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Ihnen und mir.
Ich", er starrte nun ganz direkt in ihre Augen und seine Hände ballten sich zu Fäusten, "bin ein Soldat."

Mit diesen Worten richtete er sich auf, sein Atem beschleunigte sich, doch er bemerkte es nicht. Er war gefangen in einem Netz aus Erinnerung, zu vielen Medikamenten, Gefühlen und betäubenden Schmerzen. Sein Herz zog sich zusammen, seine Seele schrie. Er verstand es nicht. Doch nun gab es nichts mehr, was die so lange angestauten Gefühle aufhielt. Gestern hatte es schon begonnen und heute wollten sie nun endlich mehr Freiraum.

In blinder Wut begann Ian, auf die Stühle einzudreschen und die zersplitterten Teile durch das kleine Zimmer zu schleudern. Dabei brüllte er sich alles aus dem Leib, was er in seinem inzwischen verhassten, geschundenen Körper finden konnte.

Helicopter Heart Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt