nine

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Ian keuchte.
Vor seinen Augen erschienen plötzlich wieder die Bilder von damals. Und als er dann das feuchte Gras an seinen Händen spürte, wusste er schon, dass er nichts mehr dagegen tun konnte. Sein Kopf versperrte ihm den Zugang zu seinen Extremitäten, sodass er unfähig war, sich zu bewegen, obwohl sein Körper einwandfrei funktionierte.

Er bemerkte entfernt, dass Ginger schon aktiv geworden war, denn das war eigentlich ihre wichtigste Aufgabe. Hilfe holen, wenn sowas passierte. Ian brauchte eine Versicherung, falls er zum Beispiel in seinem Haus umkippte. Ginger konnte sogar den Notruf wählen, wenn sie zu Hause waren, denn das Festnetz-Telefon hatte eine spezielle Taste extra für sie. Manchmal frustrierte es Ian ein wenig, dass ein Hund ihm näher stand als jeder andere Mensch in seinem Leben, dass ein Hund den Notruf für ihn wählen und ihn ins Krankenhaus begleiten musste, weil es sonst niemanden gab.

Das dunkelrote, grobe Tau, welches Ginger's Leine darstellte, umklammerte Ian fest, als Todesangst ihn überkam. Heute hatte er die Leine nur mitgenommen, weil es sehr neblig war und er es nicht leiden konnte, Ginger nicht in Sichtweite zu haben.

Die Angst fühlte sich an wie zwei kalte, vom Sprühregen feuchte und knochige Hände, die seinen Körper so fest umschlossen, dass er keinen Platz mehr zum Atmen fand.

Er wusste nicht, wie lange er schon dort lag, seine Hände und Arme verkrampften sich vor seiner Brust, es schmerzte. Gedanken, die er momentan überhaupt nicht kontrollieren konnte, fluteten ihn, sein Atem war wie festgefahren in einer einzigen Geschwindigkeit, flach und schnell.

Irgendwann, als sein Körper nur noch eine erschöpfte Hülle war, nahm er eine Stimme wahr. Was die Frau sagte, entglitt ihm. Es war, als hätte er vergessen zu verstehen, was sie von sich gab und würde zu spät noch versuchen, nach ihren Worten zu greifen.

Sie klang aufgeregt und berührte ihn unsicher immer wieder an der Schulter, holte dann irgendwann ihr Handy heraus.

Ian bekam halbwegs mit, dass der Krankenwagen kam und sein Inneres sträubte sich dagegen, dieses grellorangene, laute Fahrzeug in dieser Idylle zu sehen, welche es mit dem schallenden Martinshorn durchbrach. Es erinnerte Ian an ein scharfes Messer, welches ganz präzise und leicht den Stängel einer wunderschönen Lilie zertrennte.

Inzwischen hatte Ginger erkannt, dass er Angst hatte und befolgte ihre nächste Aufgabe für solche Fälle: möglichst viel Wärme und Körperkontakt.
Ihr Körper lag halb auf ihm, jedoch lastete er nicht schwer. Mit Hilfe der grellen Lichter, des weichen Fells und der Ruhe, die Ginger ausstrahlte, schaffte Ian es kurzzeitig, sich ein Stück näher Richtung Realität zu zerren.

Am liebsten wäre er dort geblieben, in diesem Zustand zwischen Betäubung und Angst, denn dort herauszukommen war noch anstrengender als überdurchschnittlich viele Atemzüge zu tätigen.

Das Beruhigungsmittel, welches ihm der Notarzt mit an ihm vorbeigleitenden, ruhigen Worten verabreichte, machte den Zustand beinahe angenehm. Es war wie ein leichter Schlaf, bei dem man nur noch ab und zu ein paar Worte wahrnahm. Seine Umgebung veränderte sich wie ein schlecht geschnittenes Video. Er wurde von einer Umgebung in die nächste geworfen, befand sich plötzlich im Rettungswagen.

Er bemerkte, dass ihm jemand das Portemonnaie aus der Hosentasche zog. Ian wollte darauf reagieren, doch die Verbindungen zwischen seinem Gehirn und dem Rest seines Körpers schien plötzlich der M1 Richtung Dublin im Feierabendverkehr zu ähneln.

Er wollte sich gern bei der hilfsbereiten Frau bedanken, die ihn gefunden hatte. Dass sie gar nicht mit im Rettungswagen war, bemerkte er erst, als er schon etwas klarer war und das auffällige Fahrzeug an einer Kreuzung die platzmachenden Autos überholte.

Sie hatten ihn in eine knisternde Decke gewickelt, er war wohl unterkült gewesen.
Wie lange hatte er dort gelegen? Ian wusste es nicht mehr.

"Ist alles okay bei Ihnen?", fragte der Notarzt.
Ian fühlte sich noch immer ein wenig betäubt, sodass er nur ein schwaches Nicken zustande brachte und seine Hand zu Ginger nach unten streckte.
Ihre Nase berührte seine Finger, die immer noch mit Schrammen von seinem Ausraster bei Dr.Quinn übersät waren. Plötzlich traf ihn ein Gedanke wie der Blitz:
"Wir..." Er rang kurz erschöpft nach Luft. "Wir fahren nicht ins Dublin Central Hospital, oder?", fragte er undeutlich und leise, aber panisch.

"Nein, wir sind in einigen Minuten am St.John's Hospital. Wieso fragen Sie?"

Ian antwortete nicht, es erschien ihm zu anstrengend und unangenehm, dem nahezu fremden Mann alles zu erzählen.
Der Notarzt nahm es so hin.

"Ich möchte Ihnen einmal in die Augen leuchten, gucken Sie mir bitte mal auf die Nase?"

Ian hob schwach den Blick und während der Notarzt konzentriert seine Pupillen beobachtete, nahm Ian ihn zum ersten Mal richtig wahr.
Sein Aussehen war südländisch, er hatte breite Schultern, die man unter der beuligen orange-roten Jacke mit den reflektierenden Streifen klar erkennen konnte. Obwohl er mit seinem gut gebräunten Teint und den dunklen Haaren so stark und männlich aussah, konnte Ian an seinem Blick, seinen Worten und Berührungen erkennen, dass er ein sanfter, fürsorglicher Mensch war, ganz nach dem Motto 'harte Schale, weicher Kern'.

Mit einem mal verschob sich die Realität. Ian sah immer noch den dunkelhaarigen Mann, jedoch in einer anderen Umgebung. Es war der Irak. Er keuchte.

Der Notarzt ließ die Lampe wieder in seine Tasche gleiten.

"Ich kenne dich, Marcus", kam es plötzlich aus Ian's Mund. Er hob den Kopf, um den Notarzt genauer zu betrachten, fühlte sich plötzlich glasklar.

"Du warst Militärarzt im Irak."

Marcus nickte unsicher und betrachtete ihn erstaunt.

"Das weißt du noch, Ian? Du warst so schwer verletzt, fast tot. Ich musste mich die ganze Zeit zusammenreißen, dich nicht zu fragen, ob du es wirklich bist... Ich war immer davon ausgegangen, du hättest es nicht geschafft." Er machte eine kurze Pause, leckte sich nervös über die Lippen.
"Weißt du noch, was du damals von mir verlangt hast?"

Ian schüttelte verwirrt den Kopf.

"Was sollte ich denn von dir-"

"Als du noch kurz bei Bewusstsein warst, hast du meine Hand mit dem Skalpell gepackt und sie an deinen Hals gehalten. 'Töte mich!' hast du immer wieder heiser gesagt. Immer wieder. Aber ich konnte nicht..."

"Du hast mich gerettet, nicht wahr?"

Plötzlich wusste Ian es einfach. Dieser Mann hatte sein Leben gerettet, so wie er das von Aiden gerettet hatte. Er konnte es kaum glauben, was für ein Zufall dieses Treffen war.
Marcus zuckte leicht mit den Schultern, nickte nun, sah dabei aber auf den Boden.
"Die anderen haben gesagt, ich solle es gar nicht erst versuchen, ihr hättet eh keine Chance, aber ich... ich konnte euch nicht einfach so aufgeben."

Er schluckte und warf einen kurzen Seitenblick auf Ian, bevor seine Augen wieder den Boden fixierten.

"Es war wegen dem anderen Piloten, oder?", fragte er dann. "Der, der...es nicht überlebt hat. Ich weiß es alles noch ganz genau. Der laute Knall, wie plötzlich alle einfach rausgerannt sind, um euch aus dem brennenden Heli zu ziehen, ich kann es heute noch vor mir sehen."

Seine Augen glitten kurz in die Ferne.

Plötzlich wurde die Tür des Rettungswagens von Außen geöffnet, Ian sah nun nur noch Marcus' Rücken, auf dessen Jacke groß und auffällig "Notarzt" stand.

Die Trage, auf der Ian sich befand, wurde mit einem Ruck von Marcus aus dem Wagen gezogen und augenblicklich standen ein Arzt und zwei Pfleger bei ihm.
Sie untersuchten ihn, stellten ihm Fragen, doch er schaltete wieder ab.
Sie konnten ihn so viel untersuchen wie sie wollten, seine wahren Wunden würden sie nie finden.
So tief versteckt in seiner Seele klafften tiefe Schnitte, die sich nie wieder schließen würden.

Helicopter Heart Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt