Kapitel 1

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Sanfte Schneeflocken rieselten vom wolkenverhangenen Himmel herab auf die verschneiten Straßen Londons. Ich rückte meinen schmalen Hut gerade, der ein wenig verrutscht war, als ich mein Kleid anhob, um die Straße überqueren zu können. Eine Kutsche war herangenaht und ich hatte mich beeilen müssen. Ich war schon viel zu spät, man wartete am Bahnhof der dampfbetriebenen Eisenlock sicher schon auf mich.

Meine kleine Schwester würde studieren gehen! Sie erwähnte das eines Abends, als wir uns zum Tee bei unserer Mutter getroffen hatten und überrumpelte mich damit völlig. Es war nicht hoch angesehen, wenn Frauen studieren gingen, viel mehr galt es als Frevelhaft. Anna würde es sehr schwer haben, doch ich war zuversichtlich, dass sie es meistern würde, so wie sie alles meisterte.

Der Saum meines Kleides war tropfnass, als ich die wenigen Stufen zum Bahnsteig hinaufeilte, die schmale Brücke überquerte und auf der anderen Seite wieder herunterkam, wo Anna schon sehnsüchtig auf mich wartete. Sie winkte mit einem weißen Tuch in der Hand, das ganz nass war, vermutlich weil es ihr in den Schnee gefallen war. Sie war aber auch ein kleiner Tollpatsch.

"Evy!", rief sie, als sie mich heraneilen sah und rannte ganz undamenhaft auf mich zu, umarmte mich stürmisch.

"Nana, wer wird denn da so übermütig", tadelte ich sie mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln. "Eine Dame hat ihre Röcke zu raffen..."

"... und mit eleganter Anmut zu laufen", vollendete Anna meinen Satz und verdrehte die Augen. "Aber Evy, ich bin doch so aufgeregt!"

Ich lachte. "Natürlich bist du das. Meine süße kleine Schwester", sagte ich und nahm sie erneut in den Arm, Tränen in den Augenwinkeln. Eilig zog ich ein Tuch aus meiner kleinen Tasche und trocknete damit meine Augen. Ich wollte sie gar nicht gehen lassen, so fest presste ich sie an mich. Doch dann löste Anna sich von mir und nahm mich bei der Hand.

"Ich hoffe, ich werde eine gute Fahrt haben! Ich bin ja so aufgeregt, mit diesem Gefährt reisen zu dürfen!" Anna sah mich aus glänzenden Augen an. Sie würde bei unserer Tante leben und ich hoffte, diese würde gut für meine kleine Schwester sorgen.

"Schreib mir, sobald du angekommen bist und bitte, schreibe mir regelmäßig, sodass ich mir keine Sorgen machen muss", bat ich sie und Anna nickte bedächtig.

"Aber natürlich, Evy."

Da ertönte ein lautes Bimmeln und die Eisenbahn fuhr dampfend ein, schob die Schneemassen von den Gleisen und hielt. Anna umarmte mich noch einmal fest.

Anna hatte Tränen in den Augen und ich reichte ihr mein Tuch. "Hier, deines ist ja ganz nass." Ich nahm es ihr aus der Hand und Anna nickte dankbar, richtete sich auf und gab dem Schaffner ihren großen Koffer, der ihn sicher verstauen würde.

"Bis bald, Evelyn! Und stell ja nichts an, was Mutter verärgern würde!"

Ich lachte. "Ich glaube, um mich musst du dir keine Sorgen machen." Dann stieg Anna in die Eisenbahn und die Türen wurden vom Schaffner geschlossen. Sie kam ans Fenster, öffnete es und winkte, als sich die Wagenräder quietschend in Bewegung setzten und die Eisenbahn dampfend losfuhr. Ich winkte ihr zurück, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich einen Weg meine Wangen hinunterbahnen wollten. Dann war sie verschwunden und ich vermisste sie nun schon schrecklich.

Die TeechronikenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt