Das erste, was mir entgegen kam, als ich die Tür zu dem kleinen Laden öffnete, war der angenehme Duft nach Zimt, Zitrone und allerlei Kräutern. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und sperrte die Kälte und den Schnee aus. Erst jetzt merkte ich, wie taub mein Gesicht geworden war. Ein Kribbeln in meinen Fingern verriet mir, dass meine dicken Wollhandschuhe wohl auch nicht so warm gehalten hatten, wie erhofft.
Das Licht war dumpf, der Raum klein. An den Wänden standen Regale mit unterschiedlich großen Blechdosen, die allesamt Etiketten mit Aufschriften trugen, damit man sich zurecht finden konnte.
Weiter hinten entdeckte ich eine Theke und dahinter einen braunen Vorhang, der schwer einen Torbogen verdeckte. Das Klingeln hatte wohl jemanden aufgescheucht, denn ich hörte erst ein Rumpeln, dann ein Scheppern und schließlich einen lauten Fluch, ehe der Vorhang energisch beiseite geschoben wurde und eine runzlige Frau dahinter zum Vorschein kam.
Ich presste meine druchnässten Handschuhe an die Brust und hoffte inständig, ich war nicht daran Schuld, dass es so gescheppert hatte. Die Dame trat hinter die Theke und musterte mich. Ich schluckte gegen den plötzlichen Kloß in meinem Hals an. Fast schien es, als würde sie in mich hineinblicken.
Unsinn, schalt ich mich selbst. Anna würde mich jetzt nach vorne schieben und mir zu verstehen geben, dass ich nicht wie ein verschrecktes Reh herum stehen sollte. Ich straffte die Schultern, löste meine verkrampften Hände und trat einige Schritte nach vorne, bis ich vor der Theke zum Stehen kam.
"Kann ich etwas für dich tun, Kind?", fragte die Frau und mir fielen lauter kleine Fältchen um ihre Augen auf, die defintiv vom Lachen kommen mussten. Ihr Mund jedoch hatte einen harten Zug angenommen und ihre ergrauten Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden. Insgesamt machte ihr äußeres Erscheinungsbild einen so widersprüchlichen Eindruck auf mich, dass ich schlucken musste und meine Finger sich noch verkrampfter an meine Handschuhe klammerten.
"Ähm...", begann ich und schluckte abermals. "Ich suche... einen Tee", sagte ich schließlich und versuchte, die Fassung zu bewahren. Was war das nur, was mich so verunsicherte? War es ihr stechender Blick? Der starke Kontrast von Lachfältchen und verkniffenem Mund? Oder gar das Gefühl, in etwas hineingeraten zu sein, in das ich besser nicht hineingeraten sollte? Ich wusste es nicht und ich beschloss, es auch nicht wissen zu wollen. Vielleicht war das hier doch nicht der Teeladen, den ich mir so sehnlichst erhofft hatte.
"Tee suchen die meisten Menschen, die mich hier besuchen kommen", erwiderte die Dame und für einen Moment driftete sie in ihre Gedanken ab. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, hatte sie sich wieder gefangen und sah mich an: "Eine bestimmte Sorte?"
Ich überlegte. "Nein, eigentlich nur etwas neues." Die Spannung wollte nicht weichen, wie sehr ich auch versuchte, sie zu verdrängen.
"Etwas neues, ja? Da habe ich vieles", murmelte die Frau, lief um die Theke herum und zu einem Regal hin. Sie zog eine bronzefarbene Blechdose hervor. "Das hier", sagte sie und hielt mir die Blechdose hin "ist ein Kräutertee."
Als sie nicht weiterredete, zog ich verwundert eine Augenbraue hoch. "Und welche Kräuter beinhaltet dieser Tee?""Geheimnis unter Kräuterhexen", erwiderte die Frau und ich erschrak. Hatte sie Hexe gesagt? Aber wahrscheinlich interpretierte ich nur wieder zu viel in diese Aussage hinein. Anna hielt mir oft vor, zu viel in dahin gesagte Aussagen zu interpretieren. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier. Sie würde sich nicht so verhalten, wie ich es tat. Den Schein erwecken, mutig zu sein, doch innerlich tausend Tode sterben.
Die Frau reichte mir die Dose, damit ich an dem Tee riechen konnte. Ich besah mir die Aufschrift.
Erinnerungstee stand dort. Und unten drunter Gibt ein heimeliges Gefühl und weckt verborgene Erinnerungen. Skeptisch betrachtete ich die Dose, nicht sicher, ob ich sie wirklich öffnen wollte. War ich nicht eben noch so begeistert von diesem Laden gewesen?
Die Frau musste meinen Blick wohl bemerkt haben, denn sie nickte mir nur zu und sagte: "Nur zu, Kind. Schließlich musst du entscheiden, ob du ihn nehmen möchtest, oder nicht."
Ich öffnete also die Dose und ein wirklich faszinierender Geruch schlug mir entgegen. Ich roch Zitronengras, Brennessel und einige mir unbekannte Kräuter.
Sofort umfing mich das Gefühl nach zu Hause, der Geborgenheit meiner verstorbenen Mutter, und trieb mir die Tränen in die Augen.Unwirsch schloss ich die Dose wieder und reichte sie der Frau. "Der riecht wirklich außerordentlich gut, aber ich denke, ich sollte jetzt gehen." In meiner Stimme klang mehr Bestimmtheit mit, als ich mir selbst zugetraut hätte. Ich streifte meine immer noch nassen Handschuhe über und raffte meine Röcke, um den Laden zu verlassen, da packte mich die Frau am Arm.
"Lass mich dir wenigstens eine Teeprobe mitgeben, Kind." Sie sah mich aus ihren stechenden Augen an und der Zug um ihren Mund verlor etwas an Härte. Was war das nur für eine seltsame, alte Dame? Und was war das für ein seltsamer Teeladen?
Anstatt zu antworten, nickte ich nur, blieb aber wo ich war. Die Dame ließ mich los, ging zur Theke hinüber und zog von irgendwoher eine Blechdose hervor, in die sie etwas von diesem Tee gab, an dem ich gerochen hatte.
Als sie mir die Dose reichte, wollte ich meinen Beutel zücken, um ihr wenigstens ein wenig Entlohnung zu geben, doch sie hielt nur ihre Hand auf meine und schüttelte den Kopf.
"Wenn du ihn trinkst, ist das schon Entlohnung genug", sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.Verwirrt und ein wenig schüchtern nahm ich die Dose, steckte sie in meine kleine Tasche und verließ den Laden so schnell, dass man denken könnte, ich sei auf der Flucht gewesen.
Draußen musste ich erst einmal mein heftig klopfendes Herz beruhigen und mir einreden, dass alles in Ordnung war, damit ich auf wackligen Beinen loslaufen konnte.Doch trotz allem hatte ich das starke Gefühl, in absehbarer Zeit wieder hier zu landen. Woher dieses Gefühl kam, und warum ich in dem Laden so eine seltsame Anspannung verspührt hatte, vermochte ich nicht zu sagen.
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Die Teechroniken
Historical FictionEngland, 1880 Evelyn Jones ist leidenschaftliche Teeliebhaberin, aber immer noch auf der Suche nach dem perfekten kleinen Glück: einem außergewöhnlichen Teeladen. Als sie durch Zufall auf "Ms. White's Teashop" stößt, kann sie nicht anders, als die v...