Lyael fuhr sich durch die Haare und stand auf. Da schien ihm etwas einzufallen und er musterte mich.
"Was hast du gesehen, was dich so hat ausrasten lassen?"
Die Gänsehaut wurde stärker und kroch meinen Rücken hinab. Ich schüttelte kurz den Kopf, doch Lyael schien das falsch zu interpretieren.
"Du musst es nicht erzählen. Aber du hast geschrien, ich mache mir Sorgen."
"Nein, nein. Das wollte ich nicht sagen. Ich meine... Es ist schwer zu beschreiben, wo ich war. Ich konnte nichts sehen und es war kalt. Da war... eine Art Nebel, der um mich herumgeschlichen ist und Angst ergriff von mir Besitz, Verzweiflung kroch an mir empor. Es war schrecklich." Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und ließ meine Haare wie einen Schleier vor mich fallen. Als ich mir hindurchfahren wollte, stellte ich fest, dass sie hoffnungslos verknotet waren. Ich musste aussehen, als hätte ein Vogel darin genistet. Doch das war nicht wichtig.
Ich sah Lyael an, der nickte. Dann hielt er mir eine Hand hin, anstatt mir eine Erklärung zu geben zu dem, was mit mir passierte. Es war offensichtlich nicht normal, zumindest nicht für mich und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Aus Traurigkeit wurde Wut.
"Ich möchte Erklärungen haben", verlangte ich und meine Stimme gewann an Lautstärke. Lyael legte die Stirn in Falten, als frage er sich, was mit mir passiert war. Oh, das fragte ich mich auch.
"Ich will endlich richtig aufgeklärt werden, ohne dass ich in Ohnmacht falle und nach Möglichkeit auch ohne an diesen Ort zurückzukehren!" Warum konnte er mir nicht einfach sagen, was hier los war? Anstatt mich selbst aufzuklären, überließ er das anderen, trotzdessen, dass er mich aufklären wollte. Es mutete vielleicht wie eine kindische Trotzreaktion an, doch ich wollte nicht mehr wie das fünfte Rad am Wagen behandelt werden. Lyael gab mir ein Rätsel nach dem anderen auf. Er war so widersprüchlich und erwartete, dass man damit klarkam, ganz egal, wie die eigenen Gefühle aussahen.
"Dann komm mit", sagte er, ebenfalls etwas lauter, doch immer noch beherrscht. Über den Streit vergaß ich gänzlich, dass ich zittrige Beine hatte und als ich energisch aufstand, knickten mir selbige unter meinem Körper weg und ich stürzte dem Boden entgegen. Lyael reagierte blitzschnell und machte einen Satz nach vorne, fing mich auf und versuchte, nicht selbst umzufallen. Wieder lag ich in seinen Armen. Wie passierte das nur immer wieder? Ich machte mich von ihm los, das warme Gefühl ignorierend, das mir seine Arme gegeben hatten.
Und dann schob sich ein Gedanke so energisch in meinen Kopf, dass ich ihn beim besten Willen nicht zurückdrängen konnte. Angenommen, aus Lyael und mir würde tatsächlich ein Paar werden, was ich stark bezweifelte, es hätte keine Zukunft. Ich sah es klar und deutlich vor mir. Sollte dieses Abenteuer beendet sein und bestünde eine Chance darauf, hier zu bleiben, würde ich es nicht tun können. Anna brauchte mich, mein Leben in London... Nun, das vielleicht nicht, aber Anna sicherlich. Ich sollte nähere Gefühle also gar nicht erst zulassen und versuchen, diese warmen, geborgenen Gefühle, die ich bis jetzt gehabt hatte, zu ignorieren. Es war ohnehin viel zu früh, um von irgendwelchen definierten Gefühlen zu sprechen.
Lyael sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, als hätte er den Stimmungsumschwung in meinem Kopf bemerkt, dann öffnete er die Tür und überließ mir den Vortritt.
-
An Deck wehte mir ein frischer Wind entgegen und kühlte mein erhitztes Gesicht, zerzauste meine Haare und strich durch mein Kleid. Ein wenig schwankend versuchte ich, hinter Lyaels sicherem, strammen Schritt hinterher zu gehen, doch ich kam nicht weit. Eine Welle erfasste das Schiff, brachte es zum Schwanken und ließ mich halt suchend mit den Armen rudern, was sicher sehr komisch aussehen musste. Ein paar warfen mir verstohlene Blicke zu, Aniel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er hing scheinbar in der Luft, nur gehalten von einigen Seilen, an die er sich klammerte und hantierte an etwas herum, das ich nicht richtig erkennen konnte, da ich meine Augen zukneifen musste. Der Wind war mir einfach zu stark.
Lyael sah mich abwartend an, hielt mir seine Hand hin, als er anstalten machte, eine kleine Treppe auf eine Art erhötes Deck zu steigen, auf dem das Steuerrad angebracht war. Ich schritt an ihm vorbei, wobei man das weder schreiten noch gehen nennen konnte. Es war eher ein hin- und hergewanke, doch ich wollte nicht riskieren, wieder seine Wärme oder seine Nähe zu spüren. Beides war mir überdeutlich bewusst, so schien mir, seit ich den Entschluss gefasst hatte, keine näheren Gefühle mehr zuzulassen. Es war besser so, da war ich mir sicher.
Nachdem wir die Treppe hinaufgestiegen waren, entdeckte ich ein Steuerrad. Ich drehte mich um und konnte fast das ganze Schiff überblicken. Lyael musste sich wie ein Herrscher hier oben fühlen. Verstohlen warf ich ihm einen Blick zu und wartete darauf, was er nun tun würde.
Vielleicht würde er endlich erzählen, was hier vor sich ging.
Doch gerade, als es den Anschein hatte, er würde etwas sagen wollen, entdeckte ich Marylin. Sie stand zusammengesunken an dem Geländer des Schiffes und starrte aufs Meer hinaus.
"Warte bitte einen Moment", sagte ich zu Lyael und wankte die Treppen wieder hinunter, auf Marylin zu."Marylin?", versuchte ich es vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, doch sie reagierte nicht. Unsicher legte ich ihr eine Hand auf die Schulter, sie zuckte nur unmerklich zusammen. Mit traurigen Augen warf sie mir einen Blick zu.
"Ich kann es einfach nicht vergessen, so sehr ich auch will", flüsterte sie und eine Träne rollte über ihre Wange. Ich wischte sie zaghaft weg, in dem Bemühen, ihr damit nicht zu nahe zu treten.
"Was kannst du nicht vergessen?" Es machte mich traurig, sie so zu sehen. Sie hatte so einen lebensfrohen Eindruck auf mich gemacht, dass ich nie damit gerechnet hätte, etwas Düsteres hinter dieser Fassade zu finden.
"Meine Schwester, sie-" Marylins Stimme versagte und sie krallte sich an meinem Arm fest.
"Sie ist gestorben für diese Sache und ich kann einfach nicht-" Sie schniefte laut auf und ich versuchte, mir meinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Gestorben? Wieso? Ich hatte es gefühlt, den Tod. Und jemand hatte nach mir gerufen. War es möglich, dass das Marylins Schwester gewesen war?
Der Wind frischte auf und eine Gänsehaut zog sich über meine Arme, mir fröstelte.
"Es tut mir so leid, Evelyn. Es tut mir wirklich so leid!"
"Was tut dir leid?"
Marylin sah sie an, Tränen rollten ihre Wangen hinunter wie Sturzbäche.
"Mir tut alles leid, was du wirst ertragen müssen, weil meine Schwester es nicht konnte."
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Die Teechroniken
Ficção HistóricaEngland, 1880 Evelyn Jones ist leidenschaftliche Teeliebhaberin, aber immer noch auf der Suche nach dem perfekten kleinen Glück: einem außergewöhnlichen Teeladen. Als sie durch Zufall auf "Ms. White's Teashop" stößt, kann sie nicht anders, als die v...