Ich werfe einen Blick in den Spiegel und prüfe mein Äußeres. Sehr gut! Das weiße Oberhemd mit dem Kläppchenkragen ist makellos und wird von den mit schwarzen Onyxen besetzten Manschetten- und Frackknöpfen perfekt akzentuiert, die schwarze Fliege ist tadellos gebunden, und das bordeauxfarbene Smokingjackett mit den blutroten steigenden Revers sitzt wie angegossen, ebenso die schwarze Smokinghose. Meine Haare glänzen von der Frisiercreme, mit deren Hilfe ich sie sorgfältig und mit einem leichten Mittelscheitel versehen nach hinten gekämmt habe. Die Theke ist auf Hochglanz poliert und die Bar mit allen notwendigen Ingredienzen wohlbestückt. Mein Gast kann kommen.
Normalerweise ist die Overlook Lodge in der Montgomery Road um diese Uhrzeit gut besucht; schließlich ist Pleasant Ridge für Cincinnati das, was „The Village" für Manhattan ist – ein beliebtes Wohnviertel mit einer reichen Kunst- und Musikszene. Aber ich habe Jacob Trevino, der das Overlook 2015 hier eröffnet hat, mit einer rührenden Geschichte und einer mehr als angemessenen Entschädigung davon überzeugen können, es mir für diesen Abend zu überlassen. Wenn ich meinem Gast ein wirklich einmaliges Erlebnis bieten möchte, sind die Details wichtig. Ich frage mich, ob er sich ebenso an das vereinbarte Drehbuch halten wird. Nötig ist das nicht, aber was wäre ein Mai Tai ohne Minze?
Ich höre das Schnarren eines luftgekühlten VW-Boxermotors auf der Montgomery Road näher kommen. Einen Augenblick später hält ein leuchtendgelber VW Käfer vor den großen Fenstern der Bar. Sehr gut! Dieses Detail stimmt schon mal. Der Motor erstirbt und ein Mann mit Dreitagebart steigt aus dem Wagen. Er trägt eine dunkelrote Cord-Jacke mit Reißverschluss, ein dunkles, kariertes Holzfällerhemd, Bluejeans und robuste, hellbraune Wildlederschuhe. Sehr gut! Als er die Overlook Lodge betritt, lasse ich das eigens für heute angefertigte Rollo herunter. Von innen sieht man nun eine verschneite Berglandschaft, von außen die Worte „Private Party".
Ich verharre regungslos hinter dem Tresen, als der Gast sich mir gegenüber auf einen Barhocker setzt, mich angrinst und sagt: »Hallo, Lloyd. Nicht viel los hier, hmm?« Dann lässt er ein heiseres Lachen hören. Sehr gut! Das Spiel beginnt.
»Sie sagen es, Mr. Torrance«, antworte ich und trete vor. Die verschränkten Hände öffnend stütze mich auf den Tresen und fahre fort: »Was darf's sein?«
Sichtlich angetan antwortet mein Gast: »Ich bin froh, dass Sie mich das fragen, Lloyd. Gerade heute nämlich habe ich zwei frisch gebügelte Zwanziger hier in meinem Portmonee. Und ich hab geglaubt, die müssten bis April dort drin bleiben. Also hör mal zu: gib mir erst mal 'ne Flasche Bourbon, dazu ein Glas mit Eis. Ist das zuviel verlangt, Lloyd? Ist dazu auch nicht zuviel Betrieb?«, fragt er und lässt erneut ein hechelndes Lachen vernehmen.
»Nein, Sir«, antworte ich, »Es ist mir ein Vergnügen.« Während ich mich zur Bar wende und eine Flasche Jack Daniels und einen Tumbler greife, fährt er fort: »Das gefällt mir! Du schenkst ein, und ich sauf aus, Lloyd. Einen nach'm andern.«
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Unrepeatable Experiences Ltd.
Short StoryGeschichten rund um den Auftragsmörder Winter