Fünf Monate. Waren es wirklich erst fünf Monate, die sie Scottie nun kannte? Sie dachte zurück. Dachte an den kalten, schneidenden Wind, der durch die Straßen gepfiffen hatte, als sei er sich unschlüssig, ob er die letzten Reste des Winters vertreiben oder den Frühling noch ein wenig fernhalten sollte. An die kleine, schäbige Absteige in einem der westlichen Stadtteile Baltimores, die sie bewohnte; nicht trotz, sondern wegen der hohen Kriminalitätsrate, die in dem heruntergekommenen Viertel dieser von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit gebeutelten Stadt herrschte. Was andere als Bedrohung empfunden hätten, war für sie Schutz gewesen; Schutz vor den Männern, die sie umbringen wollten, und die in dieser Gegend aufgefallen wären wie bunte Hunde mit diesen Leuchthalsbändern, die manche Menschen ihren Vierbeinern nachts anlegten. Und sie dachte an den kleinen, zurückhaltenden Mann mit dem wehmütigen Blick, der eines Nachmittags im Gang gestanden und zaghaft an ihre Zimmertür geklopft hatte.
Sie war zusammengezuckt wie eine Katze, als sie das Klopfen gehört hatte. Hatte überlegt, ob sie aus dem Fenster steigen und über die Feuerleiter abhauen sollte. Wenn es allerdings die waren, deren Kommen sie befürchtete, wäre das ohnehin vergeblich. Einen so offensichtlichen Fluchtweg hätten sie mit Sicherheit im Visier. Aber als sie misstrauisch durch den Türspion gelugt hatte, hatte da nur dieser unauffällige Mann mit den angegrauten Haaren gestanden. Mit seinem leicht gesenkten Kopf und den traurigen Augen hatte er auf sie gewirkt wie ein ausgesetzter Welpe am Rande des Highways. Sie hatte geöffnet. Wäre es eine Falle gewesen, hätte sie ohnehin schon dringesteckt. »Ja? Was ist?«, hatte sie ihn in ziemlich scharf angefahren. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, hatte der Mann zögernd erwidert. »Wozu?«, hatte sie barsch gefragt. »Wer sind Sie?« - »Mein Name ist John Ferguson«, hatte er leise geantwortet.
John Ferguson. Wie seltsam fremd ihr dieser Name war. Nicht weiterhin. Erneut. Bei ihrem dritten oder vierten Treffen hatte sie ihn einmal Johnny genannt. Er hatte sie mit dieser Mischung aus Wehmut und Bitterkeit angesehen, die ihr immer das Gefühl gab, gerade unsagbar taktlos gewesen zu sein. »Scottie«, hatte er leise gesagt. »Niemand, dem ich etwas bedeute, nennt mich Johnny.« Seitdem hatte sie ihn nie wieder anders genannt. Etwas anderes als Scottie wäre ihr unnatürlich erschienen. An jenem zugigen Tag im März war dies noch nicht abzusehen gewesen. »Machen Sie 'ne Meinungsumfrage?«, war ihre Erwiderung. Ihr war nichts Besseres eingefallen, obwohl es heutzutage kaum noch Meinungsforschung per Hausbefragung gab. »Nein«, hatte er entgegnet. »Ich würde Sie nur gern ein paar Dinge fragen.« - »Wohnen Sie hier im Hotel?«, hatte sie gefragt, obwohl sie gewusst hatte, dass er dies nicht tat. Sie hatte den Portier geschmiert, um über alle Gäste informiert zu werden. Seine Antwort war entwaffnend ehrlich gewesen.
»Nein, ich hab Sie nur zufällig hier reingehen sehn, und da wollt...« Fast hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, dass ihr jemand einfach so gefolgt war. Sie hatte sich während der Zeit in Baltimore nicht gerade herausgeputzt. Zum Teil war das Tarnung gewesen, denn ein zu gepflegtes Äußeres hätte dort im Westen der Stadt verdächtig gewirkt. Als Weiße war sie schon auffällig genug. Aber auch die psychischen Belastungen dieser Zeit hatten Spuren bei ihr hinterlassen. Sie hatte sich schlecht ernährt, zu wenig geschlafen, zu viel getrunken. Ihre Haare waren trocken und splissig gewesen. Für die Anfang 20, die sie laut Geburtsurkunde war, hätten sie damals die Wenigsten gehalten. Sie war dem Fremden sofort in die Parade gefahren: »Hab ich mir doch gedacht. Ein Anmacher. Sie haben vielleicht Nerven, mir in meinem Hotel nachzusteigen bis rauf auf mein Zimmer. Jetzt verschwinden Sie! Verschwinden Sie!« Aber er war nicht verschwunden, sondern hatte weitergesprochen: »Nein, bitte, hören Sie! Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
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Unrepeatable Experiences Ltd.
Short StoryGeschichten rund um den Auftragsmörder Winter