L'Inconnue de la Seine

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Paris, Frankreich. Das Zentrum der französischen Hauptstadt ist die Île de la Cité, jene ca. 22 ha große Insel in der Seine, auf der vor über 2000 Jahren die Stadtgeschichte Ihren Anfang nahm. Nahe dem südöstlich gelegenen Ende reckt Notre-Dame de Paris majestätisch ihre Türme in den Himmel, während die flussabwärts gelegene Spitze, durch die hier die Seine überspannende Pont Neuf vom Rest der Insel abgetrennt, von einem schmalen Park, den Square du Vert-Galant, eingenommen wird. Etwa auf halber Strecke zwischen „neuer" Brücke und Kathedrale verbindet der Boulevard de Palais den von Süden kommenden Boulevard Saint-Michel mit dem nordwärts zum Gare de l'Est führenden Boulevard de Strasbourg. Und hier, an der Ecke Boulevard de Palais/Rue de Lutèce, mitten im Herzen der Metropole, liegt die Brasserie Les Deux Palais.

Das Lokal ist so typisch französisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Ein von schmalen, schwarzen Säulen getragener Wintergarten zieht sich an der Straßenfront entlang und lässt die Grenze zwischen den um kleine, runde Tische gruppierten, korbgeflochtenen Sesseln entlang der Innenseite der Scheiben und den unter eleganten, weinroten Markisen stehenden, gleichgearteten Außenmöbeln verschwimmen. Die Innenwände sind bis in Hüfthöhe mit dunklem Holz getäfelt, darüber vervielfachen hohe Spiegel den Raum mit den zahlreichen, messingglänzenden Installationen, bevor sie von flachen, dunkelgrün grundierten, handbemalten Kassetten begrenzt werden. Decken, Stukkaturen und die wenigen raumhohen Rundsäulen sind in einem Ockerton gehalten, sodass der Innenraum abends von den mit gelben Glasschirmen versehenen Messingleuchtern in honigfarbenes Licht getaucht wird.

Winter genießt die Atmosphäre der Gaststätte, obwohl er sie weder des Flairs noch der Historie des Ortes wegen zum Treffpunkt erkoren hat. Wie immer, wenn er nichts oder nur wenig über einen potentiellen Klienten in Erfahrung bringen kann, was überaus selten vorkommt, hat er ein stark frequentiertes Lokal gewählt, das nicht nur in Hörweite einer Kirche mit Stundenschlag, sondern auch nahe einer Polizeistation gelegen ist. Eine solche Umsicht ist zwar kein Garant, aber doch eine Hilfestellung dafür, in seinem Metier ein hohes Alter zu erreichen. Die Brasserie Les Deux Palais liegt nicht nur direkt gegenüber dem Hauptgebäude des Palais de Justice de Paris, auf dessen durch einen prachtvollen, üppig vergoldeten, schmiedeeisernen Zaun von der Straße abgetrennten Vorplatz einst die Deliquenten ihre Fahrt zum Schafott antraten, sondern auch im gleichen Carré wie die Préfecture de Police, des Sitzes der Police Nationale.

Die junge, schwarz gekleidete Frau mit den wilden Locken lässt ihren Blick durch das Lokal gleiten. Ihr Gesichtsausdruck ist gleichermaßen zornig, entschlossen wie unsicher. Winter erkennt sie sofort, als sie das Lokal betritt. Obwohl er sie noch nie persönlich getroffen hat, kann er sich sehr gut an ihr Bild erinnern. Doch während sie auf der Fotografie mit ihrer Tochter ein fröhlich-verschmitztes Lächeln trug, sind ihre Gesichtszüge diesmal kalt. Ihre nahezu schwarzen Augen blitzen gefährlich hinter den großen Brillengläsern. Ihr Blick zeigt eine eigentümliche Mischung aus Erstaunen und Hass, als sie den Wartenden entdeckt. Offensichtlich hat sie sich einen Auftragsmörder anders vorgestellt. Dennoch begibt sie sich ohne Umschweife zu seinem Tisch am Fenster und fragt schneidend: »Excusez-moi! Est-ce fauteuil encore libre?« Winter deutet mit einer leichten Handbewegung auf den gegenüberstehenden Stuhl und entgegnet mit sanfter Stimme: »Bien sûr, s'il vous plaît.« - »Merci beaucoup, Monsieur Hiver!«, antwortet die Frau in sarkastischem Tonfall. »Oder sollte isch Sie lieber 'err Winter nennen?«, fährt sie mit vernehmlich französischem Akzent fort, während sie Platz nimmt.

 »Oder sollte isch Sie lieber 'err Winter nennen?«, fährt sie mit vernehmlich französischem Akzent fort, während sie Platz nimmt

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