Ein Wintermärchen

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16.53 Uhr. Ein Mann mittleren Alters betritt das Café Rose am Herderplatz. Er trägt einen halblangen, dunklen Mantel, dünne schwarze Lederhandschuhe und einen anthrazitgrauen Fedora, den er abnimmt, sobald sich die Eingangstür hinter ihm geschlossen hat. Ich mustere ihn unauffällig. Allerweltsgesicht, Dreitagebart, graue Haare. Ist er derjenige, den ich erwarte? Als sich die junge, hübsche Kellnerin ihm nähert, deutet der Mann mit spielerisch-ironischer Attitüde eine leichte Verbeugung an, spricht kurz mit ihr und geht, während sie rasch etwas notiert, ohne weitere Umschweife in meine Richtung. Dabei zieht er eine kleine Schreibkladde mit weinrotem Ledereinband aus der Manteltasche. Das vereinbarte Erkennungszeichen.

Knapp vor meinem Tisch bremst er seine Schritte, bleibt stehen und fragt höflich: »Sie gestatten, dass ich mich setze?« Ich nicke kurz, und er nimmt mir gegenüber Platz

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Knapp vor meinem Tisch bremst er seine Schritte, bleibt stehen und fragt höflich: »Sie gestatten, dass ich mich setze?« Ich nicke kurz, und er nimmt mir gegenüber Platz. »Sie können mich ‚Winter' nennen«, sage ich freundlich: »Haben Sie gut hergefunden?« Er legt den Fedora umgekehrt auf den verbliebenen freien Stuhl, zieht mit kurzen, präzisen Bewegungen die Handschuhe aus und lässt sie in den Hut fallen. Den Mantel behält er an. »Sehr gut! Allerdings sind die Stadtkirche und das Herder-Denkmal auch kaum zu verfehlen. Soll ich Sie tatsächlich nur ‚Winter' nennen? Oder darf ich Kati zu Ihnen sagen?« Sein Gesichtsausdruck ist ebenso süffisant wie sein Tonfall, aber seine Augen fixieren mich durchdringend. »Einigen wir uns auf ‚Frau Winter', einverstanden?«, entgegne ich.

»Ganz wie Sie wünschen,... Frau... Winter«, erwidert er. »Aber wie ich sehe, haben Sie noch gar kein Getränk. Ich habe mir die Freiheit genommen, bereits beim Hereinkommen meine Bestellung aufzugeben. Es stört Sie doch hoffentlich nicht?« Ich schüttele den Kopf. »Neinnein, ich wollte nur sicher sein, dass Sie auch wirklich kommen, Herr Winter, bevo...« - »Nur Winter, Frau Winter!«, unterbricht er mich. »Ein Herr oder Mister ist nicht nötig«, korrigiert er mit sanftem Tonfall, während sein Blick mich geradezu abtastet. Quadratzentimeter um Quadratzentimeter. Es fühlt sich an, als ob ich, ohne auch nur einen Muskel rühren zu können, vollkommen nackt und wehrlos vor ihm läge. Allerdings nicht auf einem Bett. Eher auf einem Seziertisch.

»Oh, tut mir leid, habe ich Sie aus dem Konzept gebracht?«, fragt ‚Winter', als ich nicht weiterspreche. Der Kerl macht mich echt nervös. Dabei wirkt er so harmlos, eher wie ein Bankangestellter als wie der hocheffiziente Auftragsmörder, der er zu sein behauptet. Ich überlege, wie ich auf die wahnsinnige Idee gekommen bin, auf dieser Internetbörse für Dienstleistungen nach einem „Contract Killer" zu fragen - als Interviewpartner zwecks Recherche für einen Roman. Wenn ich mich recht entsinne, hatte es irgendetwas mit Ilucie, einer Wette und einer größeren Menge Alkohol zu tun. Im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee. Es war ein Witz gewesen, und wir hatten auch nicht damit gerechnet, irgendeine Antwort zu bekommen. Immerhin war damals der 1. April.

Als dann tatsächlich ein Angebot kam, glaubte ich, dass ein anderer Scherzbold den Spieß einfach umdrehen wollte. Der einzige Grund, dennoch einen Termin mit ihm zu vereinbaren, war sein Name gewesen: Winter. »Eh... nein... ja... ich meine, irgendwie habe ich Sie mir anders vorgestellt... eh... das soll nicht heißen, dass Sie...« Mein Gegenüber schmunzelt. »Sie wollen sagen, dass Sie eher mit einem drahtigen, durchtrainierten Ex-Marine gerechnet haben, der zwischen Daumen und Zeigefinger Paranüsse knacken kann. Oder mit einem pickligen, blassen Nerd, der dachte, dass er auf diese Weise mal eine Frau kennenlernt. Oder - was am wahrscheinlichsten ist - Sie haben eigentlich mit überhaupt niemandem gerechnet. Na, liege ich richtig?« Mir fehlen die Worte vor Verblüffung: »Ja.«

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