Als Winter auf den Eingang des Appartementhauses zuging, schätzte er seine Überlebenschancen auf maximal 50 Prozent. Kurz überlegte er, ob er wieder kehrtmachen sollte. Zwecklos. Wenn auch nur die Hälfte dessen richtig war, was er über die Person, der er gleich gegenübertreten würde, erfahren hatte, hätte er direkt nach Empfang der Nachricht die Stadt verlassen sollen. Sei's drum. Niemand vermochte vorherzusagen, wohin ihn der Zug des Lebens fahren würde. Nur eines war sicher: Das Ticket für die Rückfahrt hatte man von Anfang an in der Tasche. Winter atmete kurz durch und betrat das Gebäude.
Der Portier hinter dem imposanten Marmortresen blickte nicht einmal auf. Das musste er auch nicht. Winters Gesicht war schon auf dem Vorplatz von einem halben Dutzend Kameras erfasst und gescannt worden. Wenn irgendein Grund vorgelegen hätte, ihm den Zutritt zu verweigern, hätten sich nicht einmal die Türen geöffnet. Die Bewohner dieser exklusiven Anlage legten Wert auf Sicherheit und Diskretion. Hätte jemand versucht, gewaltsam einzudringen, wäre er vom Portier entsprechend empfangen worden.
Der drahtige Mann in der eleganten Livree war kein Rentner, der sich etwas dazuverdiente, sondern ein hochbezahlter Spezialist, vermutlich Ex-Marine, ausgebildet in mehreren Nahkampftechniken und trainiert auf die verschiedensten Schusswaffen, von denen sich ein beachtliches Arsenal hinter dem Tresen verbarg. Der im übrigen auch kein einfacher Tresen war, sondern eine Sicherheitszone, die zu durchbrechen es schon einer Panzerabwehrrakete bedurft hätte. Winter ging, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, durch das Foyer zu den Fahrstühlen. Der RFID-Transponder an seinem Schlüsselbund rief automatisch den richtigen Aufzug.
Das Gebäude besaß keinerlei Flure, von den langen Gängen in den Service- und Techniketagen und den Kellergeschossen einmal abgesehen. Jede Fahrstuhltüre öffnete sich zu einem quadratischen Vorraum, der nur wenigen Personen Platz bot und den Zugang zu zwei weiteren Türen gestattete. Eine davon führte zum Fluchttreppenhaus und entriegelte sich automatisch nur bei einem totalen Stromausfall. Mit dem – nebenbei bemerkt – wegen der drei unabhängig voneinander arbeitenden Notstromgeneratoren kaum zu rechnen war. Dieses Gebäude war nicht nur ein Wohnhaus. Es war eine autarke Kleinstadt. Und eine Festung, gewissermaßen.
Die andere, deutlich elegantere Türe war der Eingang zu der jeweiligen Wohnung. Natürlich konnte diese ebenfalls berührungsfrei entriegelt werden, aber Winter bevorzugte es, sie auf altmodische Weise mit dem Schlüssel zu öffnen. Er wollte, dass die Person im Inneren sein Kommen frühzeitig wahrnahm. Zwar würde der, den er vorzufinden erwartete, einer solchen Ankündigung nicht bedürfen, aber jeder, der sich jetzt in den vor ihm liegenden Räumlichkeiten befand, war potenziell gefährlich. Nicht, weil er da war. Sondern weil er es überhaupt so weit geschafft hatte. Als die Türe vor ihm aufschwang, waren Winters Sinne aufs Äußerste angespannt. Was vor ihm lag, war vor einer halben Stunde noch sein Appartement gewesen. Jetzt war es ein Minenfeld.
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Unrepeatable Experiences Ltd.
Short StoryGeschichten rund um den Auftragsmörder Winter