Die Erschütterung
Das Epizentrum des Bebens lag in etwa 35 km Tiefe auf halber Strecke zwischen den äolischen Inseln und dem italienischen Festland. 53 Sekunden lang bebte die Erde. Mit einer Stärke von 6,7 auf der nach oben offenen Richterskala handelte es sich um das stärkste je gemessene Seebeben in diesem Bereich des Mittelmeers. Dennoch waren die Auswirkungen eher gering. Die Aktivitäten des Stromboli, des „Leuchtturm des Mittelmeeres", fielen etwas heftiger aus als gewöhnlich. Auf der Nachbarinsel Panarea kamen bei einem Hangrutsch ein Schäfer und ein Dutzend seiner Schafe ums Leben; auf Lipari stürzte eine baufällige Scheune endgültig in sich zusammen.
Wenige Minuten später brandete ein etwa 1 m hoher Tsunami an die Küsten Kalabriens und Nordsiziliens. In der Straße von Messina stieg der Meeresspiegel um ca. zweieinhalb Meter und beschädigte oder zerstörte in den Häfen von Scilla, Messina und einigen kleineren Küstenstädten ein gutes Hundert auf Reede liegender Fischer- und Segelboote. Die 5 km nördlich von Messina vor Pace ankernde Yacht Capri kenterte, wobei das unter Deck schlafende Eignerehepaar ertrank; auf der kalabrischen Seite der Meerenge erfasste die Flutwelle eine Gruppe badender Jugendlicher und schleuderte sie gegen einen Küstenfelsen, was für drei der Teenager tödlich endete und den übrigen zum Teil schwere Verletzungen einbrachte. Danach beruhigte sich das Meer wieder.
Auch wenn kein Computer der Welt in der Lage gewesen wäre, den Zusammenhang aufzuzeigen, hatte das Beben ebenfalls unerwartete Auswirkungen auf das Leben einer Reihe von Menschen im südlichen Mittelmeer. Wie durch eine Düse beschleunigt schoss eine Druckwelle entlang der sizilianischen Küste an Taormina, Catania und Syracus vorbei in Richtung der Großen Syrte, jener markanten Bucht zwischen Misrata und Bengasi, in der das „Mare nostrum", wie die Römer es genannt hatten, so weit wie sonst nirgends südwärts in die libysche Wüste vorstieß. Zwar erschöpfte sich die Energie der Wassermassen lange vor Erreichen des schwarzen Kontinents, doch für jene, welche die Folgen zu spüren bekamen, ergab sich dennoch ein beeindruckendes Schauspiel.
Der einsame Killer
Winter saß mit einem Glas Whisky in der Hand im Yacht-Club auf dem Promenadendeck und blickte durch die hohen, schmalen Steuerbordfenster unbewegt auf die bewegte See. Die MS Berlin war ein schönes Schiff. Sie hatte zwar nicht die klaren, yachtartigen Linien der klassischen Transatlantik-Liner, aber sie war ein schönes Schiff. Vor allem war sie ein Schiff. Winter verachtete moderne Kreuzfahrtschiffe zutiefst - diese riesigen, schwimmenden Las-Vegas-Hotels, auf denen man sich zwei Wochen lang rund um die Uhr amüsieren konnte, ohne einmal das Meer gesehen zu haben. Die Berlin war mit ihren 139 m Länge klein und wendig und konnte daher Häfen anlaufen, die diese flugzeugträgergroßen Kästen niemals zu Gesicht bekamen. Der Service war persönlich, die Atmosphäre familiär. Und man spürte die See. Das war eines seiner Probleme.
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Unrepeatable Experiences Ltd.
Short StoryGeschichten rund um den Auftragsmörder Winter