In dem Appartement brennt kein Licht. Der Mann, der in einem der sündhaft teuren Barcelona Chairs Platz genommen hat, blickt aus dem Fenster hinaus auf die nächtliche Metropole und denkt nach. Was tut er hier oben? Dort unten, inmitten dieses brodelnden Kessels aus Lärm und Lichtern, pulsiert das Leben. Warum sitzt er in dieser Wohnung und betrachtet das bunte Treiben aus der Ferne? Wovor hat er Angst?
Plötzlich spürt der Mann eine Veränderung. Irgendjemand ist im Raum; seine Präsenz ist deutlich zu spüren. Der Mann schließt kurz die Augen und atmet tief durch. Ohne sich umzudrehen, sagt er in die Stille hinein: »Ich bin hier hinten. Machen Sie ruhig Licht, wenn Sie die Finsternis stört. Und bringen Sie ein Glas für sich mit! Ich hab den Whisky hier bei mir.« Es bleibt dunkel, aber an dem leisen Klirren aus Richtung Küche erkennt er, dass der Eindringling seiner Aufforderung gefolgt ist. »Guten Abend, Victor!«, fährt er fort, »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert.«
- »Oh, nicht doch, mein lieber Winter. Sie sind es, um den ich ein wenig besorgt bin. Sie machen seit einiger Zeit so einen melancholischen Eindruck; da wollte ich mich mal von Ihrem Wohlergehen überzeugen.«
»Fürsorge? Von Ihnen? Das sind ja ganz neue Züge. - Bitte verzeihen Sie mir. Das war nicht so sarkastisch gemeint, wie es wahrscheinlich geklungen hat. Im Gegenteil, ich fühle mich ein wenig geschmeichelt. Darf ich Ihnen einschenken?«
- »Ich dachte schon, Sie fragen gar nicht mehr. Slàinte Mhath!«
»L'chaim!»
- »Was ist los mit Ihnen? So bitter kenne ich Sie gar nicht.«
»So bitter kenne ich mich auch nicht. Aber ich habe in der letzten Zeit über vieles nachdenken müssen.«
- »Sie denken doch hoffentlich nicht darüber nach, sich zur Ruhe zu setzen?«
»Sieht man mir das an? Oder haben Sie mal wieder... ‚durch's Schlüsselloch gelugt', gewissermaßen?«
- »Macht der Gewohnheit. Allerdings nur ganz oberflächlich. Der Gedanke sprang einem förmlich entgegen.«
»Da habe ich ja Glück gehabt, dass Sie nicht tiefer graben mussten. Ich habe nämlich gerade kein Aspirin im Haus. Aber um Ihnen - und vor allem mir - weitere Forschungsreisen durch die Psyche des Auftragsmörders zu ersparen... Ich denke tatsächlich über... sagen wir... Alternativen zu meinem derzeitigen Lebenswandel nach.«
- »Diese Frau hat Sie wirklich beeindruckt, nicht wahr?«
»Ja, das hat Sie. Und sie ist nicht die einzige. Es gab da einiges, das mich in den letzten Monaten beeindruckt hat.«
- »Doch nicht etwa die kleine Krähe, die Sie für mich gerupft haben?«
»Annabelle Crowe? Doch... in mancherlei Hinsicht hat auch sie mich beeindruckt. Und deshalb würde ich es vorziehen, wenn Sie weniger... despektierlich über sie reden würden. Natürlich möchte ich Ihnen diesbezüglich keine Vorschriften machen. Mir ist bewusst, dass Annabelle für Sie lediglich ein... schädliches Ärgernis darstellte.«
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Unrepeatable Experiences Ltd.
Short StoryGeschichten rund um den Auftragsmörder Winter