Der Bahnhof war wie leergefegt. Nur vereinzelte Menschen liefen mal an ihr vorbei, doch bemerkte sie niemand. Sie schritt langsam, denn sie hatte das Gefühl ihre Beine würden gleich nachgeben. An der Auskunfttafel blieb sie kurz stehen, froh über die zusätzliche Stütze, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie pünktlich war. Sie krallte sich an die Tafel, als wenn ihr Leben davon abhängen würde. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie noch sieben Minuten hatte. Es beruhigt sie etwas, das keine Menschenseele hier war. Sie nahm noch mal ihre Kraft zusammen und Schritt den Gang weiter entlang. Bis sie Gleis sechs erreicht hatte. Mit einem schmerzenden Magen ging sie die schmalen, hellblau gestrichenen Treppen hoch ins Freie. Ein wolkenloser Himmel begrüßte sie. Es war ein schöner Tag. Sie konnte sich keinen schöneren Tag für dieses Wiedersehen vorstellen. Denn jeden Moment würde der Zug eintreffen, der ihn herbringen würde. Ihren Verlobten. Ihre Hände fing an zu schwitzen. Sie war viel zu nervös, um einen klaren Gedanken zu fassen. Vor einem Jahr, bevor er diese Reise antraf, hatte er ihr ein Antrag gemacht. Ihr bester Freund. Doch bis heute weiß sie nicht wie ernst er es gemeint hatte. Immerhin hatte sie keinen Ring oder ähnliches bekommen. Es waren bloß die Wörter, die ihr blieben. Jahrelang hatte sie darauf gewartet. Sie liebte ihn schon, seit ihren ersten Tag zusammen. Sie hätte nie gedacht, dass diese Liebe erwidert wurde. Also zweifelte sie auch an der Ernsthaftigkeit des Antrags. Während seiner Reise durch Europa, hat er ihr Postkarten geschickt, doch geredet hatten sie kein Mal. Was wenn er jetzt aus dem Zug steigt und alles schon vergessen hatte? Was wenn er auf der Reise jemand Neues kennengelernt hat? Was wenn er sagt, dass es bloß ein Witz war? Ein dummer, blöder Witz. Am liebsten würde sie sich jetzt umdrehen und gehen. Würde den Bahnhof hinter sich lassen und einfach davonlaufen. Doch wenn sie sich umschaute, merkte sie, dass niemand von seinen Freunden und seiner Familie da war. Das konnte sie ihm nicht antun. Also blieb sie brav stehen, konnte vor Aufregung kaum atmen und verpasst sogar wie durch die Lautsprecher die Ankunft verkündet wurde. Aber sie verpasste nicht, wie das Rollen der Räder auf den Gleisen zuhören wurde und immer näher kam. Nun hatte sie tatsächlich vergessen, wie man atmet. Dann sah sie ihn, den Zug. Er war so hellblau wie der Himmel. Die Bremsen quietschten so laut, dass es in den Ohren weh tat, doch sie bemerkte es nicht. Jetzt würde sie ihn wieder sehen, sie hatte ihn doch so schrecklich vermisst. Der Zug kam zum stehen, die Türen öffneten sich, Menschen traten aus. Alles passierte in Zeitlupe. Dann erblickte sie ihn, die Liebe ihres Lebens. Sein Blick ging suchend durch die Menge, doch er fand sie nicht. Sie brauchte etwas, um aus ihrer Trance zu erwachen und die Hände zu heben. Sie rief immer wieder seinen Namen. Es war, als hörte er bloß ihre Stimme und ihre Blicke trafen sich. Ein Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, breiter als sie es je gesehen hatte. Mit ein paar großen Schritten war er bei ihr und zog sie in eine feste Umarmung. Sie presste sich mit voller Kraft an ihn. Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es dauerte Minuten, bis er sich widerwillig von ihr löste. Auch seine Augen waren feucht.
"Ich habe dir etwas aus Paris mitgebracht."
Wie sehr sie doch diese Stimme vermisst hatte. Sie erinnerte sich noch gut an die Paris Postkarte. Das war ihre Lieblingskarte. Er schwärmte so von Paris. Und versprach sie mal dorthin zu bringen. Der Mann ihrer Träume kramte in der Tasche und als er fand, was er suchte, kniete er sich auf dem Boden. Ihr Herz blieb stehen. Sie wollte schreien, sie wollte weinen. Sie konnte vor Freude in die Luft gehen. Er öffnete das Kästchen und eine wunderschöne Ring mit einem blauen Stein kam zum Vorschein. Bevor er die altbekannte Frage stellen konnte, schrie sie schon die Antwort raus. Sie hatte zu lange darauf gewartet. Er schien das nicht böse zu nehmen und lachte, während er den Ring rausholt und ihr an den Finger steckte. Erst jetzt bemerkte sie die Menschen außenrum, die zu jubeln und applaudieren begangen. Er nahm sie ein weiteres Mal in den Arm, bevor er sie küsste. Jetzt gehört er ihr. Sie war seins.Sie schließt ihre Augen und setzte ihre nächste Pinsel Farbe an.
