Kapitel 10

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Die Kirschblüten werden fallen.

Amina Suya Lora-Fjie (Sicht)

Ich weiß, warum sich Dazai der Hafenmafia angeschlossen hat. Er hat gehofft, dass es dort etwas für ihn geben würde. Gewalt, Tod, Trieb und blanke Gier... Ist man solchen Gefühlen aus nächster Nähe ausgesetzt, wird die menschliche Natur greifbar. So hat er sich erhofft, einen Grund zum Leben finden zu können. Wieso ich ausgerechnet jetzt an ihn denken muss, ich kann es mir nicht erklären. Seit zwei Jahren habe ich nichts von ihm gehört. Trotzdem überkam mich plötzlich das Gefühl den alten Brief wieder heraus nehmen zu müssen. Der Brief, den er mir ohne Emotionen hinterlassen hat, als er die Hafenmafia verließ. Ich rollte mich aus meinem Himmelbett und tapste zum angrenzenden Balkon. Schwungvoll riss ich die orientalischen Vorhänge bei Seite und trat hinaus auf die hellen Marmorfliesen des Balkons. Der Stein fühlte sich angenehm kühl an unter meinen nackten Füßen. Mein Reich befand sich auf der Rückseite des Hotels und legte den Blick auf einen märchenhaften Garten frei, in dessen Mitte die kleine Kirche verweilte. Vor einigen Jahren war dies ein viel versprechender Ort der Menschenkinder und der Geldbörsen ihrer Eltern. Eine geniale Idee, doch eine beschissene Lage. Viel zu weit entfernt von der geldbesitzenden Zivilisation. Das ganze war von Anfang an zum scheitern verurteilt. Jetzt ist es ein verlassenes und vor sich hin vegetierendes Horror Kabinett. Ich bin allein, denn meine Kinder sind von der letzten Nacht noch nicht zurück gekehrt. Der frische Morgenwind wehte durch meine lange Haare und ich schloss genießerisch die Augen. Wie sehr ich mir doch wünsche, irgendwann wieder neben meinem Mann aufwachen zu dürfen. Eine einzelne Träne kullerte meine Wange hinunter und ich ging zurück in mein gemütliches Schlafzimmer. Ich hockte mich hin und nahm eine der Holzplanken unter meinem Bett hoch, um eine alte verstaubte Schatulle aus dem Boden zu nehmen und auf mein Bett zu stellen. Ich setzte mich daneben und öffnete sie, um den vergilbten Brief in meinen Händen zu halten. Ich faltete das Papier auf und ließ meine Augen über die Zeilen schweifen. An meine Ehefrau. Nachdem der Boss die feindliche Organisation Mimic heimlich und illegal nach Japan eingeschleust hat, um die Fähigkeiten-Sondereinheit zu zwingen einzuschreiten, hat er ihnen das Angebot unterbreitet sich höchst persönlich darum zu kümmern, im Austausch zu der Aushändigung einer Lizenz zum Führen einer Fähigkeiten-Organisation. Letztendlich war er derjenige gewesen, der den Aufenthaltsort der Kinder preisgegeben hat und somit Odasaku auf den Feind los hetzte. Er ist in meinen Armen gestorben. Ich habe immer gesagt, dass ich in einer Welt aus Gewalt und Blutvergießen vielleicht einen Grund zum Leben finden könnte. „Du wirst ihn nicht finden." Das hat Odasaku an jenem Tag zu mir gesagt. „Denn du hast ihn bereits gefunden. Das ist dir sicher schon klar." Ob ich nun auf der Seite der Mörder oder auf der Seite der Retter stehe, ich habe jemanden gefunden, der mich so liebt wie ich bin. Es gibt nichts auf dieser Welt, dass meine Einsamkeit begraben könnte. So habe ich immer gedacht. Bis zu dem Augenblick, als ich dich traf. Ich habe Odasaku einmal anvertraut, dass ich furchtbare Angst habe, ewig in der Dunkelheit umherzuwandern. Bis ich mein Licht, in deinen Augen fand. Rette die Schwachen und beschütze die Waisen. Das hat er dir doch immer beigebracht. „Sei auf der Seite der Retter." Das hat er auch zu mir gesagt, als er im sterben lag. „Zwischen gut und böse siehst du sicher keinen großen Unterschied, aber das würde dich wenigstens ein bisschen besser machen." Wenn es beiden Seiten gleich ergeht, solange wir zusammen sind, dann werde ich ein besserer Mensch. Ich habe es ihm versprochen, weil er mein Freund ist. „Rette sie! Ändere ihr Schicksal!" Das waren seine letzten Worte. Deshalb muss ich gehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber ich verspreche dir, dass ich dich eines Tages zu mir holen werde. Dort wo ich jetzt bin, werde ich Menschen helfen. Das war alles, was er mir zu sagen hatte. Keine Abschiedsworte, kein „Ich liebe dich". Obwohl ich extrem wütend und zutiefst enttäuscht sein sollte, verspürte ich dennoch ein warmes Kribbeln im Bauch, wenn ich an ihn denke. Und auch wenn ich seinen hoffnungsvollen Worten Glauben schenken möchte, ich weiß, eine in der Dunkelheit blühende Blüte, kann letzten Endes nur in der Dunkelheit verweilen. Ich wurde aus meinem Tagtraum geholt, als mich ein Anruf erreichte. Es war Koyo Ozaki, die meine Ruhe störte und mich in ihren Kirschbaumgarten einlud.

Pünktlich traf ich am vereinbarten Ort ein. „Das ist die Schönheit herabfallender Blüten. Jedoch lässt man sie nicht als Knospen herabfallen." Ihre poetischen Worte unterstrichen den künstlerischen Touch des Pavillons unter den Kirschbäumen. Koyo gehört ebenfalls zu den fünf Führungsmitgliedern der Hafenmafia und hält sich mit Anmut und Würde in ihrer Position. Dennoch verschwendet sie keine Mühe, ihre dunkle Natur zu verbergen. Skrupellos und brutal hält sich Koyo selten in einem Kampf zurück. Was aber nichts Ungewöhnliches für einen Mafioso ist. In jungen Jahren versuchte sie, die Mafia zusammen mit einem Mann zu verlassen, den sie bewunderte. Allerdings scheiterte ihr Vorhaben und sie wurden gefangen, der Mann wurde getötet. Seit damals ist sie ein extremer Zyniker, der Hoffnung und Liebe als abstoßend empfindet. Sie glaubt nicht an die Vorteile von Nächstenliebe und behauptet, dass Menschen, die in der Dunkelheit geboren wurden, dazu bestimmt sind, niemals nach dem Licht zu streben. Bevor ihre geliebte Kyoka aus der Welt der Mafia ausgebrochen ist und zu den bewaffneten Detektiven überlief, säte sie immer eine hoffnungslose Denkweise in das Mädchen, um sicherzustellen, dass sie die Mafia niemals verlassen würde. Sie ging dabei so weit, dass sie log, indem sie Kyoka einredete, sie sei selbst für die Morde ihrer eigenen Eltern verantwortlich und vergiftete dadurch ihre kindlichen Gedanken. Als Folge davon verabscheut die Kleine das Licht ebenso wie Koyo und denkt, dass es nichts als Enttäuschung und Verzweiflung gibt. „Du willst mich um einen Gefallen bitten?" Wiederholte ich ihre Wortwahl bei unserem vorherigen Gespräch und setzte mich im Schneidersitz in den Mittelpunkt des Pavillons. Koyo stand unter freiem Himmel, mir gegenüber. Ohne Umschweife unterbreitete sie mir ihr Anliegen. „Der Boss möchte, dass ich die Detektei komplett auslösche. Aber ich bat darum Kyoka's Leben zu verschonen und ihr wurde ausnahmsweise vergeben." Schon wieder diese Organisation. Während ich im Ausland gewesen bin, war die Detektei ungewöhnlich aktiv in der Unterwelt. Bis jetzt hatte ich nie wirklich viel mit ihnen zu tun gehabt. Manchmal kam es mir so vor, als hielt mich der Boss absichtlich von ihnen fern. Jetzt wo jemand von der Hafenmafia bei ihnen untertaucht, bin aber selbst ich gezwungen mich damit zu befassen. Auch wenn Kyoka mich einen Scheiß interessiert. Aber um Koyo's Willen werde ich mir ihr Anliegen wenigstens anhören. Sogleich ich über ihre geliebte Kyoka nachdachte, sprach sie weiter. „Es ist seine Schuld, die des Menschentigers. Kyoka ist vom Licht geblendet. Vom Licht, das dieser Junge ihr gezeigt hat." Ihr Gesicht zeichnete Zorn ab, aber mich interessierte viel mehr die Bezeichnung Menschentiger. Ich weiß, dass sein Kopf 7 Billionen wert ist. Eine beachtliche Summe. Leider bin ich dieser Bestie noch nicht persönlich begegnet. Dabei würde ich ihm gerne einmal direkt gegenüber stehen. Koyo's Stimme holte mich zurück zum Wesentlichen. „Aber glücklicherweise gibt es dafür eine Lösung. Es sollte ihr schwer fallen, ohne diesen Jungen in der Detektei zu bleiben. Besonders wenn er ihretwegen gestorben ist." Beendete sie die Offenbarung ihres Vorhabens und ich sah sie skeptisch an. „Dann wirst du ihn töten?" Hakte ich zur Sicherheit und zum Verständnis nach und wusste immer noch nicht so recht, weshalb sie mich hier her eingeladen hat. Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun? Ich versteh's nicht. „Ja, das ist zu ihrem Besten. Irgendwann wird sie es verstehen." Erzählte sie mir und ich nickte kaum merklich. Meine Güte, immer dieses theatralische Getue. Ich versteh trotzdem nicht was sich damit zu tun habe. Ich kapier's einfach nicht. Als sie meinen grübelnden Gesichtsausdruck bemerkte, musste sie augenblicklich schmunzeln und meine Augenbraue fing schon verdächtig an zu zucken. „Ich habe eine Bitte an dich, Suya." Sagte sie endlich und ich dachte schon, sie würde mich ewig auf die Folter spannen. „Halt dich raus. Komm mir nicht in die Quere." Meinte sie und ich guckte sie perplex an. „Eh...?" Verwirrt blinzelte ich ein paar Mal und legte meinen Kopf schräg. „Der Boss will nicht, dass du dich in der Öffentlichkeit zeigst. Treff dich mit Chuya, hab Spaß. Aber halt dich von dem Menschentiger fern." Sachlich und neutral erklärte sie mir die Situation, doch ich überhörte ihre Nachricht nicht. Mein Gesicht in dem die Unverständlichkeit offensichtlich zu erkennen war, wurde prompt von einem breiten irren Grinsen überschrieben. Jetzt verstehe ich. Dieses Treffen hat offiziell niemals stattgefunden. Mich anzurufen war ihre freie und loyale Entscheidung gegenüber mir gewesen. Der Boss will mich also von der Bestie fern halten? In mir wuchs der absolute Wahnsinn bei dem Gedanken dem Tiger in seine goldenen Seelenspiegel zu blicken. Ich muss ihn sehen, mit meinen eigenen Augen. „Verstehe." Ich nickte ihr zu und erhob mich aus meiner kindlichen Haltung. Ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen. „Wenn er sich nicht wehrt, lasse ich ihn vielleicht für dich am leben." Kopfschüttelnd verließ ich ihren Kirschbaumgarten und mein begeistertes Lachen hing in der Luft. Sie wird nicht dazu kommen ihn zu töten, das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Sie hätte mich im Unwissen lassen sollen.

Fortsetzung folgt...

Bungou Stray Dogs - Adam und EvaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt