Kapitel 12

71 4 0
                                    

Zwischen Feindschaft und Freundschaft.

Shin Kiseij (Sicht)

Suzu hat Butterblume und mir aufgetragen unseren Sniper wieder einzufangen. Eine Mission, die mir schwer im Magen liegt. Zum einen missfällt es mir mit jemand zusammen zu arbeiten, der normalerweise im Team agiert und zum anderen fühle ich mich unwohl zwischen großen Menschenmassen, die tagsüber durch Yokohama laufen. In der Stadt herrscht reges Treiben, es ist laut und heiß. Die Kleine zu meiner rechten schweigt wie immer. Ich frage mich, wie jemand der augenscheinlich ein Einzelgänger ist, in einem Team funktioniert. Offensichtlich trügt der Schein, denn obwohl ich recht gesprächig bin, kann ich nicht so gut mit anderen. Ich bin wohl der wahre Einzelgänger hier. „Sag mal Cia, hast du schon einen Anhaltspunkt?" Fragend sah ich zu ihr herunter, doch sie antwortete mir nicht. Sie saß auf der Mauer der Brücke, die über einen kleinen Fluss führte und hatte die Augen geschlossen. Konzentriert vergrößerte sie immer mehr den Radius ihrer Fähigkeit. Der Raum weitete sich immer mehr über die Stadt aus. Doch die eigentliche Herausforderung ist es, eine einzige Person unter der Bevölkerung dieser Stadt ausfindig zu machen. Und als Person ohne Fähigkeit ist Yuen nicht gerade eine Auffälligkeit. Die Ältere macht nichts als Ärger. „Gefunden." Flüsterte die Kleine und ich hätte sie beinahe überhört. „Sie ist nicht allein." Cia schlug die Augen auf und guckte mich erwartungsvoll an. „Ehhhhhhhhh!?" Ohne Vorwarnung packte ich ihren Kopf und näherte mich ihrem Gesicht. „Was meinst du damit, sie ist nicht alleine?" Yuen will doch nicht am helllichten Tag auf Zivilisten schießen. Mit zusammen gekniffenen Augen musterte ich die Kleine, doch sie verzog keine Mine. Genervt ließ ich von ihr ab und raufte mir die Haare. Mit einem langen Seufzer winkte ich ab und schulterte mein Skateboard. „Den Rest kannst du ruhig mir überlassen." Meinte ich und sie nickte verstehend. „Das Ziel befindet sich auf dem Marktplatz." Erklärte sie mir und hüpfte von der Mauer. Ein kleines Lächeln zierte ihre Lippen und sie winkte mir zu. Schon ein bisschen gruselig die Kleine, dachte ich und machte mich auf den Weg.

Auf dem Marktplatz angekommen stieg mir gleich der leckere Geruch von warmen Gebäck, gebrannten Nüssen und frischen Meeresfrüchten in die Nase. Obwohl sich so viele Menschen auf dem Markt herum trieben, hatte ich noch genügend Freiraum um mit meinem Board geschickt durch die Masse zu kommen. Im Schritttempo rollte ich über den Platz, stieß meinen Fuß ein paar Mal am Boden ab und beobachtete aufmerksam meine Umgebung. Ich wusste, dass Yuen sich nicht innerhalb der Masse aufhält, denn ein Sniper ist nicht für den Nahkampf gemacht. Sie wird irgendwo im Umkreis ihre Position bezogen haben. Ihr ständiger Begleiter ist zwar der Revolver, doch heute hat sie wohl eher die Lust verspürt ihr Scharfschützengewehr zu benutzten. Zumindest wurde mir gesagt, dass es aus der Sammlung entwendet wurde. Aber wen hat sie sich als Ziel ausgesucht? Unerwartet stieß ich gegen jemanden und stolperte einige Meter nach vorne. Geradeso blieb ich standhaft. Reflexartig trat ich auf das Ende des Skateboards um es hochzunehmen und unter meinen Arm zu klemmen, bevor es wegrollen und unter der Masse verschwinden konnte. „T-Tschuldige!" Hörte ich die Stimme der Person die mich angerempelt hat und drehte mich zu dieser um. Gelbe Augen, weißes Haar mit schwarzer Strähne und altmodische Klamotten. Unmöglich, ausgerechnet dieser Kerl. „Menschentiger..." Flüsterte ich unbedacht und die Augen meines Gegenübers weiteten sich entsetzt. Ich kann mir denken, dass er schon vielen Kopfgeldjägern zuvor begegnet ist und mich nun als solchen identifizierte. Schließlich würde ein einfacher Zivillist ihn nicht als Menschentiger betiteln. Er hat zurecht diesen panischen Gesichtsausdruck. Die Menschen um uns herum bekamen nichts davon mit, wie wir uns gegenüberstanden, den jeweils anderen nicht aus den Augen ließen und jeden Moment darauf gefasst waren einen Angriff abwehren zu müssen. Jetzt bin ich mir sicher, dass der Menschentiger ihr Ziel ist. Beide hier anzutreffen ist definitiv kein Zufall. Doch plötzlich überkam mich das Gefühl selbst als Zielscheibe zu fungieren. Ich ließ von dem Menschentiger ab und versuchte ihre Position ausfindig zu machen, vergebens. Verfluchte Scheiße! „Bist du auf der Suche nach mir?" Ihre Stimme drang an mein Ohr und ich wirbelte erschrocken herum. Das Scharfschützengewehr hing über ihre Schulter und sie hob die Hand, in der sie ihren glänzenden Revolver hielt. Wie gesagt, sie liebt diesen Revolver einfach. Mit einem irren Grinsen richtete sie den Lauf ihrer Waffe auf den Menschentiger. Dann drückte sie ab. Bevor er reagieren konnte, stieß ich ihn bei Seite und zog mein Skateboard als Schild. Die Kugel verfehlte zwar ihr ursprüngliches Ziel, traf aber dennoch voll ins Schwarze. Was für eine Durchschlagskraft. Mein Board war beschädigt und in meiner Schulter steckte eine bleierne Patrone. Genervt spuckte ich ihr mein Blut vor die Füße. „Wie lästig du doch bist, Sniper." Sagte ich und wischte mir das Blut vom Mundwinkel. „Deinetwegen habe ich mein Ziel verfehlt, du elender Streuner!" Meckerte sie und setzte erneut ihren Revolver an, doch dieses Mal war ich schneller. „Schnauze!" Knurrte ich und griff nach der Laterne neben dem Menschentiger, der zitternd auf der Straße saß. Ich riss die Metallstange aus dem Stein, der Platz bekam Risse und die umstehenden Leute wichen aufgescheucht zurück. Mit ganzer Kraft holte ich aus und keine Sekunde später preschte ihr Körper in die nächste Hauswand. Doch nicht kräftig genug. Fluchend stieg sie aus den Trümmern und ihr Gesicht verzerrte sich ekelerregend. „Suzu verlangt nach dir. Du sollst sofort zurückkehren!" Ich versuchte sie zu warnen, doch natürlich wollte sie nicht hören. Ihr Grinsen war etwas zwischen amüsiert und wütend, das konnte ich in ihrer hässlichen Visage nicht deuten. Sie nahm den Revolver und ließ die einzelnen Patronen zu Boden fallen, bis auf eine. Dann drehte sie die Trommel. „Lass uns mein Lieblingsspiel spielen." Schlug sie vor und kam auf mich zu. Jetzt reicht es mir endgültig. „Vigour on!" Sagte ich und entfesselte meine Fähigkeit. Augenblicklich stoppte sie in ihrem Vorhaben und ich guckte sie verdutzt an. „Mir war eben langweilig." Sie zuckte mit den Schultern. „Aber wenn du unbedingt willst, werde ich gehen." Gespielt empört warf sie ihren Kopf in den Nacken und ging. „Du bist echt ein Spielverderber, Shin." Nuschelte sie wie ein kleines Kind und schien tatsächlich bereitwillig den Schauplatz zu räumen. Genervt rollte ich mit den Augen. Warum muss sie denn immer so ein Theater aus allem machen? Mit einem dicken Seufzer ließ ich die Metallstange klirrend auf die Steine fallen und wandte mich widerwillig dem Menschentiger zu. „Komm, lass uns verschwinden. Wir haben schon genug Aufsehen erregt." Ich hielt ihm meine Hand entgegen, die er nach kurzem Zögern ergriff. Schnell tauchten wir in der nächsten Gasse unter und verschwanden in der Dunkelheit, die trotz der hoch am Himmel stehenden Sonne dennoch existierte, ganz unbemerkt von den Menschen, die nur das Tageslicht sehen. „Scheiß Tüssi." Murmelte ich und schmiss mein Board auf den Boden. Unter Schmerzen rutschte ich an der Hauswand hinunter und entfernte die Patronenkugel aus meiner Schulter. Genervt schmiss ich das Blei vor meine Füße. Blut quoll aus der Schusswunde und spritzte auf die Steine. Was ein beschissener Tag. Der Menschentiger sah mich schuldig an. „Ich bin übrigens Shin. Und ein Fähigkeitennutzer, genau wie du." Ich stellte mich ihm vor, was ihn aus seiner Starre zu holen schien. „I-Ich heiße Atsushi." Stammelte er etwas unbeholfen und ich lachte auf. „Erzähl mal, du bist doch der auf den man 7 Billionen ausgesetzt hat, nicht wahr? Was ist so besonders an dir?" Skeptisch musterte ich den schmächtigen Jungen, der zwar in meinem Alter zu sein schien aber sich seiner Fähigkeit kein bisschen bewusst war. Dabei hat der Kerl mit Sicherheit großes Potenzial. Während ich auf seine Antwort wartete, presste ich meine Mütze auf die Wunde um die Blutung zumindest für den Anfang zu stoppen. „Ich glaube ich habe nichts besonderes an mir." Sagte er nach einer Weile und ich sah auf. „Stimmt vielleicht, aber irgendwie hast du es zu den bewaffneten Detektiven geschafft." Mit einem belustigten Grinsen wollte ich ihn aufmuntern, doch sein betrübter Gesichtsausdruck wechselte bloß in Unsicherheit. „Woher...?" Wollte mein Gegenüber sofort wissen, weshalb ich schnell beruhigend meine freie Hand hob. „Wenn du glaubst, ich will die Detektei oder eine andere Organisation um die 7 Billionen erpressen, muss ich dich enttäuschen. Ich habe kein Interesse an einem Vermögen." Kaum hatte ich geendet, ließ er sich erleichtert zurückfallen und lachte leicht auf. „Dann warst du gar nicht meinetwegen auf dem Markt?" Fragte er verblüfft und wirkte auf einmal viel entspannter. „Du bist ganz schön naiv, dafür das du bereits Eva begegnet bist." Stellte ich fest, während ich Atsushi ernst ansah. Augenblicklich wurde die Situation für ihn bedrohlich und er versuchte unauffällig etwas Abstand zwischen unsere Positionen zu bringen. Lange Zeit schwiegen wir und nur die dumpfen Schritte der Masse, die an der Gasse vorbei ging, hallte die Mauern hinauf. „Ich mache mich dann mal auf den Weg." Meinte ich schließlich und erhob mich aus meiner sitzenden Haltung. Die Mütze hat sich bereits mit der roten Flüssigkeit vollgesogen und stank fürchterlich. Die werde ich wohl nicht mehr aufsetzten. Wieder trat ich auf das Skateboard und nahm es hoch. „Wohin willst du?" Rief der Menschentiger unerwartet und hielt mich noch einmal auf. Verwirrt über seine Frage zog ich meine Augenbraue hoch. „Wohin ich will? Ist das nicht offensichtlich, nach Hause." Antwortete ich und platzierte das Board lässig auf meiner Schulter. Atsushi senkte den Blick. „Tut mir leid. Ich dachte du bist wie ich." Nuschelte er gen Gassengrund und meine Augen weitete sich überrascht. Er hat es tatsächlich bemerkt. Ich war ein Weisenkind, genau wie er einst. „Tz." Der ist wohl doch kein Narr, wie ich anfangs dachte. Amüsiert grinste ich. „Naja, wahrscheinlich hast du recht." Kein Narr, aber ebenso spaßig. Nachdenklich blickte ich hinauf in den Himmel. Es riecht nach Regen. „Ich denke wir können gute Freunde werden Atsushi." Diesmal sprach ich freundlich und ehrlich zu dem Menschentiger, der mich mit großen hoffnungsvollen Augen ansah. „Freunde?" Wiederholte er ungläubig und ich wandte mich von ihm ab. „Ja, eines Tages vielleicht. Wenn dieser alberne Krieg gewonnen ist." Und dies soll ein Versprechen sein. Mit der Hand zum Abschied erhoben, ließ ich die Beute unberührt in der Oberwelt zurück. Die Herrin wird mich sicher dafür bestrafen. Doch in diesem Moment denke ich, das war es mir wert.

Fortsetzung folgt...

Bungou Stray Dogs - Adam und EvaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt