Kapitel 2

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Die Frage wiederholt sich immer.

Shin Kiseij (Sicht)

In diesem Moment, exakt hier, zu diesem Zeitpunkt, eben genau jetzt, stellte ich mir die Frage, ob ein Mensch wie ich, es überhaupt verdient hätte so zu sterben. Ich fand diese dreckige, feuchte, schlammige, stinkende, düstere, also allgemein abscheuliche Gasse schon fast zu schön für ein noch abscheulicheres Monster wie mich. Ich denke, ich habe wirklich Glück an einem so herrlichen Ort den Tod vollziehen zu dürfen. Wie mein ganzes Leben zuvor, würde auch heute niemand an meine Seite treten und für mich da sein. Ich erwarte auch nichts, weder von der Welt noch den Menschen, denn das was ich nicht kenne, sollte ich wohl auch nicht vermissen. Seit ich eine eigene Auffassung besitze und selbstständig handeln kann, genauer gesagt seit dem Tag meiner Geburt, wusste ich, dass ich mein ganzes Leben in einem Waisenhaus verbringen würde. Da hatte ich natürlich noch nicht mit meiner Entwicklung zum Esper gerechnet und das sich das Dach über meinem Kopf gänzlich auflöst. Von diesem Augenblick an, war mein Dasein der Straße gewidmet. Aber nicht irgendeiner Straße. Nein, einzig und allein den zugepissten Gassen in der Nacht. Das ich ebenfalls hier sterben sollte, erschien mir wie ein längst unumstößliches Schicksal. Obwohl ich am Verhungern war, hätte ich, wenn ich es natürlich auch nur ansatzweise wollen würde, zumindest versuchen können mich weiterzuschleppen und etwas Essbares zu finden. Nur war ich es satt, dem Tod so ekelhaft nah zu sein, ihm zu entkommen. Immer wieder, jede Sekunde um mein Überleben kämpfen und bangen zu müssen. Warum nicht gleich den Löffel abgeben, ohne weitere unnötige Umwege zu gehen? Ich hatte den Sinn meines Daseins eh nie verstehen können. Wie kann das Leben eines Espers auch einen gezielten Sinn besitzen? Ich habe bis jetzt nichts Großes in meinem Leben erreichen können, warum sollte ich also belohnt werden? Andererseits habe ich mir auch nie etwas zu Schulden kommen lassen und doch lag ich nun hier. Der kalte, harte Regen prasselte auf mich nieder und ließ mich einfach nicht einschlafen. Das Gefühl, wie sich mein Magen aufbäumte und zugleich wieder zusammenzog, war unerträglich. Die Magensäure stieg meinen Rachen hoch und verätzte meinen Mund. Selbst das schwache Husten tat weh und ich spürte wie schleimiges Blut meinen Mundwinkel hinunterfloss. Ich hätte wohl geweint, wenn ich die letzte vorhandene Tränenflüssigkeit nicht schon vor Jahren verbraucht hätte. Ich bin gerade 13 Jahre alt geworden und werde wohl keine 14 werden. Zum Glück muss ich mir jetzt um nichts mehr Sorgen machen. Ich habe ehrlich zu mir selbst und zufrieden mit meinem Leben abgeschlossen. So lang man sein Leben noch als lebenswert empfindet, fragt man sich oft, ob man eines Tages wirklich damit abschließen könnte. Doch hat man durchgemacht, was ich erlebt habe, ist die Antwort ganz simpel. Es ist keine Frage mehr, sondern eine schlichte Tatsache allem ein Ende zu bereiten. Ob man dabei etwas bereut oder nicht, bleibt letztendlich wohl jedem selbst überlassen. Sobald man in dieser Welt zu einem Esper wird, scheint all dein vorheriges Leben vollkommen fremd und unbedeutend. Es ist nicht so, dass man nach der Verwandlung sofort als Ausgestoßener endet. Es sind die Menschen, die jemanden, der nicht in die durchschnittliche Gesellschaft passt, als Monster bezeichnen und es so lange wiederholen, dass man es sich selbst einredet und letztendlich daran glaubt. Und obwohl die meisten unserer Art sich dessen bewusst sind, gibt es kein Entkommen aus diesen Gedanken. Wir sind gefesselt in einer zweiten Welt, die fremde Menschen für uns erschaffen haben und denen wir zu Lebzeiten nicht einmal Gehör geschenkt hätten. Doch wenn man ein Monster ist, wirkt die natürliche Gefahr der Masse noch bedrohlicher als zuvor. Der Mensch ist der Feind. Er besitzt keine übernatürliche Macht, kann nicht mehr ausrichten als zu reden und doch ist diese unscheinbare Waffe der psychologischen Manipulation das tödlichste an ihnen. Selbst wenn man versucht wie ich, unterzutauchen und nicht aufzufallen, haben sie es auf einen abgesehen. Das verursachte Unheil der Menschen, ist Heil und das der Esper, nur noch mehr Unheil. Nur die Esper gelten als schädlich und müssen sofort unschädlich gemacht werden. Allerdings muss ich mich jetzt ja nicht mehr damit beschäftigen. Es fiel eine Last von meinen Schultern, die mich mit Erleichterung füllte. Eine Erleichterung, mit der ich vor meinem Tod, in dieser Situation nicht mehr gerechnet hätte. Trotzdem empfand ich Dankbarkeit, auch wenn ich niemanden wusste, dem ich sie ausdrücken könnte. Erst nach einer Weile bemerkte ich, dass es aufgehört hatte zu regnen und meine Augenlieder immer schwerer wurden. Ich spürte wie mein Herzschlag sich verlangsamte und der zirkulierte Blutfluss begann einzufrieren. Es muss auch ziemlich kalt Draußen sein. Leider kann ich mich nicht mehr an die Jahreszeit erinnern, denn ich liege schon viel zu lange hier. Weder Himmel noch Hölle scheinen mich zu sich holen zu wollen. Vielleicht weil ich ein Esper bin, vielleicht gibt es einen anderen Platz für uns. Wahrscheinlich bin ich nicht schrecklich genug gewesen, um mit meinen Gleichgesinnten in das Grab der Esper zu wandern. Ich habe wirklich alles vermasselt. „Hast du Spaß?" Ob ich Spaß habe? Die Frage ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Ich habe wohl zu viel Zeit mit Überleben verbracht, um mir über die Bedeutung von Spaß im klaren zu werden. Was ist nun Spaß? Vermutlich eine Art Freude, etwas das man empfinden kann und das einem zum Lachen bringt. Bis jetzt habe ich nicht einmal geschmunzelt, geschweige denn etwas Schönes empfunden. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Aber vor meinem baldigen Tod, sollte ich es wenigsten Mal ausprobieren. Lachen, meine ich, wenn die Mundwinkel anfangen zu zucken und sich die Lippen dehnen und breit verzerren. Obwohl ich mich somit selbst belügen würde. Schließlich ist dies weder ein Moment zum Belächeln noch das ich etwas wie Spaß empfinden könnte. Ich fühle mich gut und dennoch bin ich nicht glücklich. Glück gibt es in dieser Welt nicht mehr, nicht für mich. Ich habe mir mein Leben lang eingeredet, dass es anderen noch schlechter geht als mir und es mir somit gut gehen würde. Also was habe ich für eine Definition von gut? Gut ist wie ein ok, ein hm, sozusagen nichts. Eigentlich wusste ich es nicht und es interessierte mich auch nicht. Was war das für eine absurde Frage, ob ich Spaß hätte? Wie konnte mich jemand so etwas fragen? Was hat sich diese Person nur dabei gedacht? Und da begriff ich erst, dass ich nicht alleine war. Nein, diesmal war jemand an meine Seite gekommen. „Was?" Hauchte ich und es fühlte sich an, als würde ich meinen letzten Atemzug tun. „Hast du Spaß?" Wiederholte die Stimme in meinem Kopf. Die dort ja gar nicht existiert, sondern draußen, hier in dieser Welt. Abrupt riss ich meine Augen auf und die pure Lebendigkeit strömte plötzlich wieder durch meinen Körper.

Fortsetzung folgt...

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