Kuus sollte Recht behalten. Zu viert kletterten sie auf eine mächtige Eiche, die nun das Zentrum des neuen Tamieheids bildete. Valer und Mäat benötigten für den Aufstieg deutlich länger als der junge Wächter, denn sein Hörnchen war bereits mit einigen Sätzen auf der Plattform angekommen. Valer tat sich noch immer schwer sicheren Halt an der Rinde zu finden. Als Dunkelforstadee hatte sie das Klettern nie richtig gelernt.
Mäat konnte erkennen, dass die Stege nur auf die Schnelle zusammengezimmert worden waren, doch sie waren stabil und erfüllten ihren Zweck. Es dauerte nur einige Wimpernschläge, bis sich ihre Ankunft herumgesprochen hatte und von allen Seiten strömten plötzlich Adeen und Hörnchen auf das Holzkonstrukt.
»Ach du lieber Himmel, Mäat!«, ertönte eine hohe, grelle Stimme und ließ Mäat herumwirbeln. Noch bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er in eine Umarmung gezogen, die ihm fast den Atem raubte. Lockiges Haar versperrte ihm die Sicht, doch seine blähenden Nasenflügel vernahmen einen Duft, den er unter unzähligen wiedererkannt hätte.
»Mutter!«
»Ich dachte du wärst tot, Junge!«, ungläubig löste Morr sich von ihrem Sohn und streckte die Arme durch, um den Adeen von oben bis unten zu inspizieren. »Wie kommt es, dass du am Leben bist? Und warum kommst du jetzt erst zurück? Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«
Mäat lächelte sie beruhigend an: »Immer mit der Ruhe, wir haben ja jetzt Zeit zu reden.« Ihm fiel auf, dass sich Morrs Gesichtszüge verändert hatten. Zu den Falten rund um ihre Augen gesellten sich jetzt einige größere auf der Stirn. Bei der Umarmung war sie ihm klein und gebrechlich vorgekommen und er wusste nicht, ob sie so sehr an Gewicht verloren hatte, oder ob seine eigene, nun weitaus kräftigere Statur, ihn täuschte. Er überragte sie jetzt um einen ganzen Kopf und konnte somit auf ihren sonnengebräunten Scheitel blicken. Ihr Gesichtsausdruck war gefasst, doch in ihren Augen konnte er ein Glitzern sehen.
»Du hast Recht. Komm mit, ich bringe dich erst einmal zum Hauptschlupf! Dort gibt es was zu essen.« Fast schon wollte Mäat ihr Angebot abschlagen, da er immer noch wohlgenährter aussah, als all die Adeen, die sich mittlerweile neugierig um die Ankömmlinge herum versammelt hatten. Im Dunkelforst war es ihm nicht schlecht ergangen, doch er wollte auch nicht undankbar sein. Gerade, als er seiner Mutter folgen wollte, fiel ihm ein, dass Valer noch neben ihm stand. Sie hatte den Empfang still verfolgt, wurde aber von den Eichenwaldbewohnern genauso ungläubig angegafft, wie der tot geglaubte Mäat.
»Mutter, bevor wir gehen möchte ich dir noch jemanden vorstellen. Das ist Valer. Sie ist eine Dunkelforstadee und hat mich auf meiner Rückreise hierher begleitet.«
***
Der Blick seiner Mutter hatte Mäat sofort gezeigt, dass die Adeen seiner Heimat mittlerweile von der Existenz ihresgleichen wussten. Sie hatten sich in einem großen Schlupf zusammengesessen, der direkt an die Plattform angegrenzt hatte. Ehe sie Platz genommen hatten, war der Raum bereits überfüllt, doch Morr hatte viele der Adeen mit fuchtelnden Handbewegungen und aufbrausender Stimme verscheucht, sodass sich zuletzt nur noch die wichtigsten Dorfbewohner eingefunden hatten. Unter ihnen war auch die Älteste Thall, die solche Präsenz ausgestrahlt hatte, dass Mäat sofort klar geworden war, dass sie nun das Sagen hatte. Was mit Großmeister Thur geschehen war, hatte er nicht zu fragen gewagt.
Als er also nach und nach versuchte, Morr die vergangenen Sonnenläufe zu schildern, schwenkte ihr Ausdruck in Unglauben um. Jetzt war Mäat noch dankbarer um Valers Anwesenheit, als zuvor, denn hätte er den anderen seine Geschichte erzählt, ohne den lebenden Beweis neben sich sitzen zu haben, hätten diese ihn für durchgeknallt gehalten.
Ein kleines Mädchen hatte es sogar gewagt und war auf die Adee zugegangen, um durch ihre hellen Haare zu streichen.
Valer hatte sich sichtlich Mühe gegeben, gelächelt und so freundlich und ungefährlich wie möglich gewirkt. Als Mäat von Tod Rutans erzählt und seine Mutter ihm wissend zugenickt hatte, hatte sie ihm sanft und unauffällig über den Rücken gestrichen. Sie hatte auch nichts gesagt, als er den Fragen rund um Xav ausgewichen war. Nur grob hatte er angeschnitten, das dieser ein neues Leben im Dunkelforst vorgezogen hatte, ohne die Vorfälle zwischen ihnen zu erwähnen.
»Jetzt aber genug von mir. Alles andere können wir in den nächsten Sonnenläufen noch besprechen. Wie ist es euch ergangen? Wie geht es Vater?«
Morr schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war versteinert und die Augen wirkten kühl. Mäats Magen zog sich zusammen und ihm wurde übel. Gleichzeitig brannten seine Augen und er spürte, wie sie feucht wurden, doch er atmete tief durch. Er wollte nicht vor seiner Mutter und all den anderen Adeen weinen, dafür fühlte er sich einfach schon zu alt.
Seine Mutter sprach krächzend weiter. Es schien, als hätte sie ihre Tränen bereits verbraucht, als wäre keine einzige mehr übrig. »Die Verluste waren groß. Es erwischte vor allem die älteren und kranken Adeen. Einige der Männer kamen bei den Versuchen um, andere zu retten oder das Feuer zu löschen. Viele Hörnchen ließen ihr Leben, als sie zu ihren Reitern hinunter in die Schlupfe gesprungen waren, direkt ins Feuer. Doch einige konnten flüchten. Am nächsten Sonnenlauf drehte der Wind zu unseren Gunsten. Der Flammen wurden zur Wiese hinaus gedrückt, wo sie weniger Nahrung fanden und irgendwann erloschen, doch die Zerstörung war riesig. Alle Überlebenden fanden sich am Rande von dem ein, was früher Tamieheid war und die Hörnchen versuchten aus den verbrannten Resten alles rauszuholen, was noch übrig war. Verletzte, Nahrung, Werkzeug, Blattpapp. Alles was das Feuer nicht zerstört hatte, nahmen wir mit. Dann trauten wir um die Verstorbenen.«
Mäat schluckte, als seine Mutter durchatmete.
»Dein Vater, Großmeister Thur, Keze ... und natürlich auch um dich. Wir wussten schließlich nicht, dass du noch am Leben bist.« Ein hoffnungsvolles Lächeln schlich sich auf Morrs Lippen und Mäat versuchte es zu erwidern, scheiterte aber kläglich.
»Thall ist nun Großmeisterin «, meinte die Adee und deutete dabei auf die Dorfälteste. »Wir waren uns alle einig, dass es keinen Sinn machen würde, dort in der Zerstörung zu bleiben. Wir mussten sowieso alles erneut aufbauen und es wird einige Mondrunden dauern, bis unter der Asche wieder Leben entstehen kann. Also hat sie uns weiter östlich geführt und wir haben hier neu angefangen. Es ist nicht so schön wie das alte Dorf, doch fürs Überleben sollte es reichen.«
Bei den letzten Worten seiner Mutter zog er seine Braue nach oben. »Tut es das?«
»Es wird knapp, aber wir sollten es schaffen«, mischte sich Fixk ein. Der Tüftler war gerade in den Schlupf eingetreten und die umstehenden Adeen machten ihm Platz.
Mäat konnte sich gut vorstellen, dass er nun einer der wichtigsten Männer des Dorfes war, denn er war schon immer schlau und konnte gut entwerfen, planen und kalkulieren. Man sah ihm an, dass er nun mehr Verantwortung zu tragen hatte, als je zuvor. Er war nicht mehr nur der erfinderische Bastler.
»Die Sammler sind fleißig und mithilfe der Hörnchen haben sie unseren neuen Speicher zumindest soweit gefüllt, dass wir den Winter überstehen sollten. Zum Glück sind wir ja nicht mehr so viele.«
Der Tüfler bemerkte die entsetzten Blicke nicht, die sich auf ihn richteten. Er war zwar brillant, schoss es Mäat durch den Kopf, doch an Einfühlsamkeit und Fingerspitzengefühl hatte es ihm schon immer gemangelt.
Doch bevor überhaupt jemand reagieren konnte, stürmte eine weiter Adee ins Innere des Schlupfes und sprang auf Mäat zu, begleitet von schrillem Aufjohlen und fliegendem, rotem Haar.
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Waldwesen - Kiefernfrost
FantasyAchtung! Zweiter Band der Waldwesen-Reihe. 1. Band: Waldwesen-Eichenfeuer. https://www.wattpad.com/story/124584790-waldwesen-eichenfeuer Nach dem aufregenden Sommer kehrt Mäat, zusammen mit Valer, nach Tamieheid zurück. Die Freude über seine Rückke...