Kapitel 5

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Es hatte gerade einmal eine Sekunde gedauert, bis Valer seine Ausrede durchschaut hatte. Während sie in Richtung Dorf wanderten warf sie Mäat über die Schulter einen tadelnden Blick zu.

»Ich kenne dich vielleicht nicht ein Leben lang, aber du bist immer noch ein solch schlechter Lügner, dass ich das sofort in deinem Gesicht erkenne.«

Mäat wusste, dass es falsch war, ihr nichts von seinem Aufeinandertreffen mit Meister Kall zu erzählen. Doch als er in den Unterschlupf zurückgekommen war, wollte er nicht darüber reden. Nun hatte er jedoch keine andere Wahl, denn seine Erklärung für die nächtliche Wanderung außerhalb des Schlafplatzes hatte Valer nur mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert.

»Aber ich habe abgelehnt. Ich möchte den Adeen hier vor Ort helfen. Meiner Familie!«

Valer nickte: »Das versteh ich Mäat. Mach dir keinen zu großen Kopf darüber.«

Sie sagte das so leichthin, doch bei dem Gedanken daran, dass den Melmurreitern Schlimmeres passieren könnte, weil er ihnen nicht zu Hilfe kam, wurde ihm ganz mulmig zumute. Andererseits könnte er es sich niemals verzeihen, sollte ein Bewohner Tamieheids in seiner Abwesenheit zu Schaden kommen.

Die blonde Adee nahm seine Hand und strich in beruhigenden Bewegungen zärtlich über seine Finger. Mäat genoss die kürzlich hinzugewonnene Vertrautheit zwischen ihnen. Er wusste nicht, wo und wann diese genau entstanden war, aber irgendwo auf ihrer Reise nach Tamieheid waren sie sich näher gekommen. Es hatte damit begonnen, dass sie unwahrscheinlich viel geredet hatten. Mäat hatte all die Enttäuschung über Xav bei ihr loswerden können und Valer ließ ihn tief in ihre durchgeschüttelte Gefühlswelt eintauchen. Nachdem sie ihren Bruder und das Dorf verlassen hatte schwankte sie zwischen Zweifel und Vorfreude.

Mäat blickte auf ihre geflochten, hellen Haare, die sich um ihre Schulter legten, während sie sich ihren Weg zur großen Eiche bahnte, über die Kuus sie gestern zum Zentrum des neuen Tamieheids gebracht hatte. Mit Xav hatte er des öfteren Gespräche geführt, doch Mäat musste feststellen, dass es ihm viel leichter fiel seine Gedanken Valer gegenüber preiszugeben. Sogar alle Sorgen und Ängste hatte er ihr verraten und im Gegensatz zu seinem früheren Vertrauten tat sie nicht alles mit einem Schulterzucken ab und meinte auch nicht, dass alles gut werden würde. Und je länger sie miteinander redeten, desto inniger wurde auch der Umgang miteinander. Doch mit dem Kuss vor seinem zerstörten Elternhaus hatte er weder gerechnet, noch hatte er ihn realisiert. Erst in den darauffolgenden Sonnenläufen spürte er, welche Auswirkungen dieser auf ihn selbst hatte.

Mäat Sichtweise hatte sich geändert und auch jetzt starrte er auf ihren Körper, als sie die Hand zum Gruß erhob. Ihre sechs Finger waren zart, doch bei genauerer Betrachtung konnte er die Muskeln erkennen, die sich ganz leicht unter der Haut des Armes, bis zu ihrer Schulter hinaufzogen. Ihr Rücken war unter dem Flachskleid verborgen und obwohl Valer ihm seit dem ersten Tag an im Dunkelforst beim Waschen zusah, hatte er sich das selbe bei ihr noch nicht gewagt. Daher konnte er sich den Anblick, welcher unter dem Stoff zum Vorschein kommen würde, bisher nur in seinem Kopf vorstellen.

»Hallo Kuus«, sagte sie zu dem Wächter und lächelte dabei. Der tadelnde Blick, mit dem sie zuvor Mäat noch bedacht hatte, war verschwunden.

Kuus tat ihnen den Gefallen und brachte beide Ankömmlinge einzeln auf dem Rücken seines Hörnchens zu den Stegen, sodass sie sich das Klettern sparen konnten. Dankbar stieg Mäat vom Rücken, hielt Valer aber noch zurück, die sich schon auf den Weg in die Dorfmitte machen wollte.

»Kuus, könntest du vielleicht kurzfristig einen Ersatzwächter für deinen Posten finden? Ich möchte gerne, dass Valer das neue Dorf komplett sieht und wenn sie mag, kannst du ihr auch den Lauf des Rasis durch den Eichenwald zeigen?«

Waldwesen - KiefernfrostWo Geschichten leben. Entdecke jetzt