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Die ganze restliche Woche wurde darüber spekuliert, wer wohl auf das Schloss der Prinzessin eingeladen worden war. Jeder war sich sicher, dass ich es war, aber ich wollte es nicht einsehen und hatte Angst davor. Ich wusste, dass die Prinzessin meine Mutter kannte und sie auch mochte, das hatte die Prinzessin mir gesagt, als sie am Geburtstag der Oberin das Internat besuchte, um ihr zu gratulieren. Sie hatte gemeint, ich solle mir meine Mutter immer als Vorbild nehmen und versuchen so zu werden wie sie. Zur Mutter Oberin hatte sie gesagt, sie sollten sich mir besonders annehmen. Jetzt hatte ich alles kaputt gemacht. Die Prinzessin hatte gedacht ich sei ein braves Mädchen, aber ich hatte sie enttäuscht. Damals war ich wie im Rausch gewesen. Es war nach dem Theaterstück passiert, das wir der Oberin zu Ehren vorgeführt hatten. "Romeo und Julia", ich hatte damals den Romeo gespielt. Alle waren fröhlich und in bester Laune. Im Speisesaal hatten wir die Tische und Stühle zur Seite geschoben, es wurde Musik gespielt und wir tanzten wie wild und tranken Punsch. So ein Fest gab es selten, und überhaupt war es das erste, das ich miterleben durfte. An diesem Abend schien es, als könnten wir tun und lassen was wir wollten. Der Punsch war heiß und fruchtig gewesen und kratzte etwas im Hals, wenn man ihn hinunter schluckte. Konnte ich ja nicht wissen, dass die Köchinnen Alkohol hinein gegeben hatten. Alkohol war im Internat eigentlich nicht erlaubt, so hatte ich nicht damit gerechnet und trank bis ich mich so glücklich und mutig fühlte, wie schon lange nicht mehr.

Ich erinnerte mich noch daran, wie mich jemand dazu aufgefordert hatte nochmal den Monolog des Romeo aufzusagen. Ich war voller Freude und Energie gewesen. Ich hatte mich aufgestellt, meine Arme ausgebreitet und sprach mit einem breiten Lächeln und geschlossenen Augen: "... Sie ist es: Meine Göttin! Meine Liebe! Das Fräulein von Bernburg!" Als ich meine Augen wieder öffnete und in die verwirrt schauenden Gesichter meiner Freundinnen sah, erklärte ich ihnen wie viel wir uns bedeuteten und wie sehr wir uns liebten. Alles war verstummt und starrte mich an. Dann teilte sich die Menge und die Mutter Oberin, neben ihr das Fräulein von Racket, kamen herein gelaufen. Beide sahen zutiefst wütend aus. Aber ich hatte keine Angst. Anstatt wie die anderen Schülerinnen beschämt den Kopf zu senken, stellte ich mich ihnen entgegen. Ich hatte das Gefühl, niemand könne mich mehr aufhalten. Das nächste aus meiner Erinnerung, war das Isolierzimmer. Mir war es speiübel gewesen. Mein Bauch und mein Kopf taten mir fürchterlich weh. Niemand durfte mit mir reden oder mich sehen. Nur eine Bedienstete brachte mir einmal am Tag etwas zu Essen.

Dieser Zwischenfall war der Grund, warum das Fräulein von Bernburg kündigte und das Internat verließ. Ich weiß nicht, wie sehr die Mutter Oberin ihr Druck machte oder ob sie komplett aus freien Stücken ging. Damals, kurz nach ihrem Verschwinden, war ich mir sicher, sie hatte ebenfalls Gefühle für mich entwickelt und rannte nun davor weg. Da war ich sauer auf sie gewesen und hatte sie verflucht. Ich konnte nicht glauben, dass sie so feige war und mich im Stich ließ. Jetzt, jetzt war ich ins Zweifeln gekommen. Vielleicht hatte sie mich gar nicht geliebt. Ich hatte alles nur falsch interpretiert. Ich hatte ihr Leben versaut. Immer öfters suchte ich die Schuld bei mir und kam zu dem Schluss, dass ich selbst für mein Leid verantwortlich war. Hätte ich damals nicht so viel getrunken, hätte ich nicht so frei alles ausgeplaudert und wäre ich nicht so naiv gewesen, dann wäre sie jetzt vielleicht noch da und würde uns alle durch die Finsternis bis zum Ende des Tunnels begleiten.

Jetzt saß ich wie alle anderen Schülerinnen beim Abendessen im Speisesaal. Vor mir lag ein Teller mit einem winzigen Stück trockenem Brot und daneben ein kleines Rädchen Wurst und eine Scheibe Käse. "Oh wie ich mich mal über so ein richtiges Festmahl freuen würde." murmelte Klara. Angewidert drehte sie die Brotscheibe in ihren Fingern umher, schnupperte prüfend daran und schielte durch ihre Brillengläser hinunter auf eine eingetrocknete Stelle: "Wer morgen auf das Schloss geht, nimmt doch bitte eine große Tasche mit und bringt darin alles Essen was er tragen kann mit zurück ins Internat!" "Au ja!" stimmte ihr Ilse zu: "Aber am besten wäre es, du beschwerst dich bei ihr persönlich über das Essen hier. Und über die Lehrer!" Sie sah flehend zu mir rüber. "Ach, du konntest doch nicht mal selbst den Mund aufmachen, als du zuletzt vor der Prinzessin standst." Yvette, die neben mir saß, fing an mich zu verteidigen: "Davor hast du noch so mutig getan. Aber als du die Möglichkeit hattest, bist du verängstigt zurückgewichen. Wie kannst du es da von Manuela verlangen?" "Wer sagt denn, dass ich es bin die eingeladen wird?" Ich schaute durch die Runde, aber jeder sah mich nur mitleidig an. "Keine Sorge." meinte Josi: "Ich fand es äußerst beeindruckend wie du der Mutter Oberin die Stirn geboten hast!" "Ich auch!" Mia und die anderen nickten heftig. Yvette legte mir eine Hand auf die Schulter: "Egal was passiert, wir werden hinter dir stehen. Da kann auch Alexandra nichts dran ändern."

Alexandra. Als ich an unseren Nachbartisch blickte, entdeckte ich sie, wie sie mit gesenktem Blick in ihre Teetasse starrte. Sie war genauso traurig wie ich. Als ich ans Internat kam hatte mich Ilse vor ihr gewarnt. Sie hatte gemeint, Alexandra würde mir die Augen auskratzen, würde ich ihr Fräulein von Bernburgs Zuwendung stehlen. Ich war nicht auf ihre Warnung eingegangen. Zwar hatte ich noch meine Augen, trotzdem hatte sich Alexandra bei mir gerächt. Sie war es gewesen, die der Oberin von meinem Gefühlsausbruch nach dem Theaterstück erzählte und sie noch am selben Abend zu uns führte. Dass sie mit der Aktion dafür sorgte, dass das Fräulein kündigte, hatte sie nicht bedacht. Alexandra war genauso wie ich in das Fräulein von Bernburg verliebt gewesen. Jetzt bereute sie es vermutlich zutiefst, der Oberin von meinen Gefühlen erzählt zu haben.

"Passt auf!" Die älteste Schülerin des Internats, Margot von Raakow, stand an der Tür und befahl uns uns zu erheben. Alexandra stellte widerwillig ihre Tasse ab und ich konnte ihr ins Gesicht blichen. Sie war blasser als sonst. Ihre Augen waren leicht gerötet und ihr Zopf etwas lockerer als sonst. Außerdem stand sie nicht mehr so aufrecht. Sie sah nicht wie früher arrogant und eingebildet aus, sie sah müde und enttäuscht aus. Sie war die einzige an ihrem Tisch, niemand wollte mehr etwas mit ihr zu tun haben, nachdem sie mich verraten hatte. War es seltsam, dass ich ein wenig Mitleid mit ihr hatte? Gerade ich die sie am meisten hassen sollte, empfand Mitgefühl. "Achtung!" Margot öffnete die Tür und herein kam das Fräulein von Racket. In ihrer Hand hielt sie den Zettel.

"Hergehört, meine lieben Kinder!" Sie rückte ihre Lesebrille zurecht und faltete das Papier auseinander: "Morgen früh bei Sonnenaufgang um sieben Uhr wird eine Kutsche im Hof vorfahren. Ich erwarte von euch genaueste Pünktlichkeit! Die Kutsche wird die Schülerinnen, deren Namen ich im Anschluss vorlesen werde, auf direktestem Wege zum Schloss der Prinzessin und des ihres Gatten bringen. Dort werdet ihr dann das Wochenende verbringen und euch so höflich und angebracht verhalten, wie man es euch beigebracht hat! Habt ihr mich verstanden!?" "Jawohl Fräulein von Racket!" Alle sahen sie gespannt an. Es kam mir vor als würden alle, nicht nur ich, in diesem Moment die Luft anhalten. "Nun gut. Die Schülerinnen, die die königliche Hoheit so bedingungslos zu sich bestellt hat, sind... Margot von Raakow, Karla von Wolzogen, Alexandra von Treskow und Manuela von Meinhardis!" Ich fühlte wie meine Beine anfingen, weich zu werden. In meinem Kopf wurde es schwummrig und ich brauchte einen Moment um mich zu beruhigen. "Alles gut, Manuela?" Yvette blickte mir besorgt in die Augen. "Ich weiß nicht..." flüsterte ich. Um uns herum brach lautes Stimmengemurmel aus, Karla lachte fröhlich und schob ihren Teller beiseite. "Komm." Yvette zog mich am Arm von der Bank und führte mich zum Ausgang des Speisesaals: "Ich werde dir erstmal helfen, deine Sachen zu packen."

Die Nacht über konnte ich überhaupt nicht schlafen. Ich war total nervös und aufgeregt. Am nächsten Morgen stand ich bereits sehr früh auf, wir mussten noch in die Kleiderkammer gehen und unsere normalen Klamotten abholen. Ich fühlte mich unwohl als ich in mein schwarzes Kleid, mit dem schwarzen Mantel und dem schwarzen Hut schlüpfte. Es waren noch die Kleider, die ich am ersten Tag trug, als meine Tante mich ins Internat brachte. Es war Trauerkleidung. Sie passte mir nicht mehr richtig und war auch nicht dem Anlass entsprechend, doch was hätte ich anziehen sollen? Die einzige Kleidung die es im Internat gab, waren die Uniformen. Unter meiner Kleidung trug ich immer noch das Hemd, das mir das Fräulein von Bernburg geschenkt hatte. Sie hatte es mir gegeben, weil meins mehr einem Sieb mit tausend Löchern glich als einem ordentlichen Hemd. Jedes Mal wenn ich es abends ablegte, vergrub ich meine Nase darin, auf der Suche nach einem letzten Fleckchen von ihrem Geruch. Aber es roch nicht mehr nach ihr. Alles was blieb war der weiche Stoff, von dem ich mir manchmal vorstellte wie er wohl auf ihrer Haut gelegen haben muss.

Um kurz vor sieben trat ich zu den anderen in den Hof. Auf den Punkt genau öffnete sich das schwere Schmiedeeiserne Tor und auf der Einfahrt hörte man das Getrappel von Pferdehufen. "Jetzt ist es soweit." meinte Karla überglücklich: "Jetzt gibt es endlich bald was richtiges zu Essen!"

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