Nach etwa einer dreiviertel Stunde rasteten wir. Die Sonne schien immer noch, aller Schnee war geschmolzen und am Wegesrand sprießten bereits die ersten Krokusse. Der Kutscher, Heinrich hieß er und war schon lange Kutscher der Königsfamilie, gab uns eine halbe Stunde in der wir uns ein wenig die Beine vertreten durften. Er mahnte uns jedoch in der Nähe zu bleiben, denn er hatte der Prinzessin versprochen uns heil nach Magdeburg zu bringen. Wir waren mitten in der Natur, ringsherum grün, nicht mal in der weiten Ferne war eine Stadt zu sehen. Genüsslich zog ich die frische Luft ein. Manuela war bereits einen schmalen Trampelpfad entlang durch den Wald gelaufen, ich sah sie etwa 50 Meter entfernt in der Hocke sitzen. Sie bestaunte eine kleine Schar von Pilzen auf denen sich ein braun-orangener Schmetterling niedergelassen hatte. Als ich zu ihr stieß und ihn ebenfalls ansah, musste ich an die Insektensammlungen meines Vaters denken. "Maniola Jurtina." murmelte ich und Manuela schaute verwirrt zu mir herauf: "Ein großes Ochsenauge. Mein Vater war immer besessen davon Tiere zu sammeln und zu studieren, vor allem Wirbellose. Wundere dich nicht wenn bei uns daheim massenweiße Schaukästen an den Wänden hängen, ein paar ausgestopfte Tiere müssten auch herum stehen, sofern er sie nicht weggeräumt hat. Er war als junger Mann gerne jagen." "Die armen Tierchen." Manuela schüttelte den Kopf und stand auf: "Komm, lass uns weitergehen, da vorne ist ein Bach."
Ich folgte ihr und bald hörten wir das leise Plätschern. "Es ist so friedlich hier." meinte Manuela: "Ich wünschte es wäre Sommer, dann könnten wir uns jetzt ans Wasser setzen und unsere Füße hinein hängen lassen." Beim Gedanken an das eiskalte Wasser, das noch vor ein paar Tagen gefroren war, erschauderte ich. Manuela ging jetzt vom Weg ab und stapfte querfeldein durch den Wald. Ich zögerte erst kurz, dann folgte ich ihr aber und dachte, ich müsste einfach mal wieder das Leben genießen. Wie früher. Erwachsen sein konnte ich später noch genug. Schweigend stiegen wir über Baum und Wurzel, durchwühlten das abgestorbene Laub oder liefen über unendlich weiches und grünes Moos. Über uns zwitscherten die ersten Vögel und das Pocken eines Spechts konnte man auch hören. Immer mal wieder warf mir Manuela scheue Blicke über ihre Schulter zu. "Manuela?" fragte ich schließlich. "Mmm?" "Ich denke wir sollten langsam umkehren. Eine halbe Stunde ist bestimmt schon vorbei..." "Ach komm, er kann bestimmt noch ein bisschen warten." Sie blieb stehen und wartete bis ich sie eingeholt hatte. Dann streckte sie ihren Zeigefinger aus: "Schau, da vorne ist voll die schöne Lichtung." "Ich sehe sie." "Komm, wer als erstes da ist!" Manuela fing an zu rennen, noch einen raschen Blick warf sie auf mich, dann hüpfte sie gekonnt über den nächsten Baumstumpf und war weg.
Sie war weg. Nicht weg im Sinne von sie war so schnell im rennen. Sie war wirklich verschwunden. Verwirrt beschleunigte auch ich meinen Schritt. Als ich einen kurzen, aber sehr deutlichen Schrei hörte, brach in mir die Panik aus. "Manuela?!" rief ich besorgt: "Manuela?! Was ist passiert? Wo bist du?!" Ich erreichte den Baumstamm und beugte mich hinüber. Auf der anderen Seite war ein riesiges, eingestürztes Loch. Es musste zu einem Bau führen. Mit Schrecken starrte ich in die Tiefe. Gut drei Meter unter mir lag Manuela auf matschigem, kiesigen Boden. Ich schrie entsetzt auf. Sie regte sich nicht, ich konnte aber auch nicht genau erkennen ob sie auf einem Stein aufgeschlagen war. Ich brach in Schweiß aus und alles drehte sich. "Manuela!" kreischte ich: "Manuela, geht es dir gut?! Hörst du mich?!" Sie antwortete nicht. Mir wurde übel. Ein Bild von einem aufgeplatzten Schädel bildete sich vor meinem inneren Auge. Ich hatte so etwas schon mal gesehen. Ganz früher in Vaters Firma. Ich fluchte laut und versuchte die Tränen zu bekämpfen. Ich musste stark sein, Hilfe holen. Ich taumelte vom Baumstamm weg und schüttelte meinen Kopf. Es war noch nicht die Zeit zum Schluchzen. Mit einem riesigen Klos im Hals fing ich an nach Hilfe zu brüllen. Ich brüllte und brüllte, bis ich anfing zu husten. Dann rannte ich zurück quer durch den Wald. Nun fing ich doch an zu weinen. Ich konnte den Trampelpfad einfach nicht wieder finden. Schon dachte ich es wäre vorbei. Der Arbeiter aus Vaters Firma war mit dem Kopf auf ein schweres Metallstück gefallen, sein Schädel war gespalten und das Blut spritzte so weit, dass es Tage brauchte es wieder aufzuwischen. Ich stolperte über einige Wurzeln, fing mich wieder auf und zerkratzte mir dabei die Hände und zerriss mein Kleid. Den Schmerz nahm ich nur beiläufig wahr. Wieder fing ich an zu rufen, meine Stimme nur ein klägliches Krächzen. Nach zehn Minuten fiel ich auf den Boden. Meine Lungen brannten, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Entkräftet legte ich mich gegen eine Birke. Von weit her meinte ich noch Stimmen zu hören, doch dann wurde mir schwarz vor Augen.
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HOPE OF MORNING
FanfictionPreußen, 1911 Es ist bereits einige Monate her, dass das Fräulein von Bernburg das Internat für höhere Töchter verlassen hat. Manuela schafft es langsam den Verlust ihrer geliebten Lehrerin zu akzeptieren, sie versucht sich auf die gemeinsame Zeit m...