Der Nachmittag wollte und wollte einfach nicht vergehen. Als wir alle zurück beim Schloss ankamen, verabschiedeten sich Prinz und Prinzessin, da sie sich noch mit Bekannten treffen mussten. Das Fräulein zog sich ebenfalls zurück und wir vier verbrachten erst ein paar Stunden im Park und später in einem der vielen Wohnzimmer zusammen vor einem großen Kamin. Margot hatte sich ein paar Aufgaben eingepackt, Alexandra las in einem Roman, den sie aus einem Bücheregal gezogen hatte und Karla hatte mich dazu überredet mit ihr Schach zu spielen. Ich hatte keine Ahnung wie Schach funktionierte, aber Karla zuliebe versuchte ich es. Ich hatte ja so oder so nichts besseres zu tun. Endlich war es sechs Uhr. Wir packten unsere Sachen, machten uns frisch und gingen zum Speisesaal. Als wir ankamen, waren die anderen bereits versammelt. Wir wünschten uns allen einen Guten Abend und Guten Appetit. Doch auch heute Abend bekam ich fast kein Essen herunter. Der Schweinebraten war zwar perfekt gewürzt, in feiner Soße und die Kartoffeln, die als Beilage bereit standen, knusprig gold-gelb gebraten; Trotzdem weigerte sich mein Magen so viel gute Nahrung aufzunehmen. Immer wieder schweifte mein Blick nach links oben, hinüber zu Elisabeth. Mir kam es seltsam vor, sie weiterhin Fräulein von Bernburg zu nennen. Das hatte so etwas formales und distanziertes, was seit dem Gespräch heute Vormittag nicht mehr zwischen uns stand. Auch sie hob immer mal wieder den Kopf, ihre Haare wieder hochgesteckt. Zwei oder dreimal trafen sich unsere Blicke. Ich fühlte sofort wie mir heiß wurde und ein Kribbeln meinen Körper durchlief. Sie dagegen war ziemlich gut darin, ihre Gefühle zu verstecken. Ihr Auftreten war wieder professionell und kühl. Und doch dachte ich einmal, leichte Röte auf ihren Wangen erkannt zu haben.
Gleich nachdem die anderen auf ihre Zimmer gegangen waren und ich nichts mehr auf den Gängen hörte, schlüpfte ich zurück in den Flur, lief die Treppe hinunter und betrat eine Ecke des Schlosses, die ich bisher noch nie genau unter die Lupe genommen hatte. Es war ebenfalls ein Gang, doch nur ein kurzer, danach folgte sofort eine große weiße Holztür, ähnlich wie der, die zum Büro führte. Ich lauschte. Innen war es still, ich war mir jedoch sicher, dass dies Elisabeths Räume sein mussten. Ich atmete gespannt durch und klopfte sanft. Ich hörte etwas rascheln und dann Schritte. Die Tür wurde geöffnet und vor mir stand Elisabeth. "Ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist." flüsterte sie. Ich lachte leise. "Na dann." Sie öffnete die Tür weiter und trat zur Seite: "Komm rein. Ich hab uns Tee kommen lassen." Sie schloss die Tür hinter mir und führte mich zu einem Möbelkomplex aus zwei Sesseln, einem Sofa, einem niedrigen Tischchen und Kamin an der rechten Wand. Neugierig sah ich mich um. Es war mehr wie eine kleine Wohnung als ein Zimmer. Rechts war ein großes Schlafzimmer mit eigenem Bad und links eine winzige Bibliothek mit Schreibtisch und großen Wandgemälden. Vor dem Kamin lag ein großes Kuhfell, alles war in dunklem Holz gehalten und ich fühlte mich sofort wohl. "Setz dich. Ich hole uns den Tee. Du magst doch Kamille, oder?" "Klar." Ich ließ mich in einen der Sessel fallen. Komisch. Ein sehr komisches Gefühl ergriff mich. Schlief ich noch? Träumte ich etwa noch?
Ich schloss meine Augen für einen Moment, öffnete sie aber sofort wieder, als ich neben mir ein leises Klirren vernahm. Elisabeth kam mit einem großen silbernen Tablett und Teeservice herein. Sie stellte es ab und goss mir mit einer beeindruckenden Anmut Tee ein. "Danke." murmelte ich und schnupperte an dem Dampf. Köstlich. Elisabeth setzte sich mir gegenüber aufs Sofa. Immer noch fühlte es sich seltsam an. Ich wollte die Stimmung etwas auflockern und fragte ob sie hier wohne. "Vorübergehend." meinte Elisabeth und seufzte: "Jetzt wo ich nicht mehr im Internat schlafen kann, muss ich mir eine andere Bleibe suchen. Ich wohne gerade nur hier, da die Prinzessin und der Prinz auch hier sind. Wenn sie weiter reisen, muss ich auch wieder raus." "Und deine Familie?" "Vielleicht frage ich meinen Bruder ob ich bei ihm und seiner Frau unterkommen kann, bis ich eine eigene Wohnung finde." Ich lächelte. Sie hatte also auch einen Bruder. "Hast du sie immer besucht, wenn du Sonntags das Internat verlassen hast?" Elisabeth nickte. "Was ist mit deinen Eltern?" hakte ich nach. "Ich sehe meine Eltern nicht besonders oft. Eigentlich nur an den Feiertagen." "Ich wünschte ich könnte meine Eltern wiedersehen." Elisabeth sah mich mitfühlend an: "Sie waren bestimmt nette Menschen, oder? Die Prinzessin hat mir von deiner Mutter erzählt. Eine warmherzige und fürsorgliche Person. Sehr offen und gebildet, erklärte die Prinzessin mir." "Sie war das beste in meinem Leben." erinnerte ich mich: "Sie hat mich geliebt, mich verstanden und stand immer hinter mir. So wie du jetzt." "Ich..." Elisabeth lächelte verwirrt: "Wenn du meinst..." "Doch." bestätigte ich: "Schon damals im Internat. Du warst die einzige Person, die uns zur Seite stand." "Ich würde euch so gerne noch zur Seite stehen. Ich hatte vor euch bis zum Schulabschluss zu begleiten und euch in schwierigen Situationen zu bestärken. Ich weiß wie es ist keine richtigen Eltern zu haben. Meine waren früher, wie die Oberin heute ist. Sie erzogen durch Härte, anstatt durch Liebe. Damals hatte ich mir so sehr jemanden gewünscht, der mir die Hand geben und mich führen würde."
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HOPE OF MORNING
FanfictionPreußen, 1911 Es ist bereits einige Monate her, dass das Fräulein von Bernburg das Internat für höhere Töchter verlassen hat. Manuela schafft es langsam den Verlust ihrer geliebten Lehrerin zu akzeptieren, sie versucht sich auf die gemeinsame Zeit m...