Ich lag schon gut fünf Minuten im Bett, als das Schloss an der Badezimmertür endlich auf klickte und Elisabeth heraus gelaufen kam. Barfüßig huschte sie über den kalten Boden, zog die Vorhänge etwas zur Seite um das Mondlicht hereinzulassen und schloss die Tür bis nur noch ein sehr schlanker Streifen Licht des Kamins ins Zimmer fiel. Als sie sich dann zurück zum Bett tastete und unter die Bettdecke schlüpfte, war es zu dunkel, als dass ich sie gut hätte erkennen können. Ich fühlte wie sie sich bequem auf die Seite legte und ein paar Mal fröstelnd zusammenzuckte. Nach einer Weile der Stille, in der sich auch meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich ihr Gesicht. Es war mir zugewandt und sie musterte mich schweigend. "Du bist etwas ganz besonderes." flüsterte sie auf einmal. Ich schnaubte leise. "Nein wirklich." Elisabeth lächelte: "Ich habe so lange am Internat unterrichtet und ich dachte ich kenne alle Typen von Mädchen. Die überzeugten und ehrgeizigen, die viel lernen und immer alle Regeln befolgen. Die die es einfach nicht fassen können, an Heimweh leiden und ständig weinen. Die die sich damit abfinden und das Beste daraus machen. Aber alle haben eine Sache gemeinsam. Sie wollen gut in der Schule sein und später als erwachsene Frau, einer gerechten Arbeit nachgehen. Heiraten und ihre Ehemänner glücklich machen. Aber dann kamst du. Und du wehrst dich gegen das ganze Konzept. Du lässt dich einfach nicht unterdrücken." Ich lachte leise und fühlte mich geschmeichelt: "Das einzige was ich will ist Freiheit, Gerechtigkeit und Verständnis." "Du solltest Philosophie studieren." schlug Elisabeth vor: "Du denkst immer so viel nach und nimmst nicht alles so hin wie es ist. Wichtige Fähigkeiten, glaub mir." "Ach... Ich will nicht studieren." "Was willst du dann? Was hast du dir in deinem Leben als Ziel gesetzt?" "Ich weiß nicht." gab ich zu: "Ich hab doch erst ein Ziel erreicht." Elisabeth hob eine Augenbraue: "Welches?" "Klingt jetzt bestimmt kitschig." Ich grinste: "Aber ich habe endlich Liebe gefunden. Elisabeth, ich liebe dich." "Ich... Ich denke es wäre das Beste wir genießen unsere gemeinsame Zeit noch, bevor du zurück in die Schule musst." "Ich würde gerne mehr über dich erfahren." meinte ich und gähnte. Elisabeth musste ebenfalls gähnen. Dann lächelte sie belustigt. "Schon seit Ewigkeiten wollte ich mehr über dich wissen. Jetzt bin ich nur noch neugieriger. Wie ist deine Familie so?" Ich hakte zwar nach, wusste aber selbst, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie mir noch heute ihren Lebenslauf offenbaren würde, sehr gering war. Es war schon spät und wir beide waren echt müde. "Lass uns doch für heute schlafen." schlug Elisabeth vor: "Ich werde dir noch früh genug von mir erzählen." "Okay." Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen: "Schlaf schön, Elisabeth." "Gute Nacht, Manuela." Sie rutschte blitzschnell zu mir herüber und drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn: "Träum schön." Sie ließ sich zurück ins Bett fallen und blieb verdammt dicht neben mir liegen.
Kaum hatte ich die Augen geschlossen, schlief ich auch schon ein. Ich schlief mindestens genauso gut wie die Nacht davor, vielleicht sogar noch besser. Als ich erwachte und meine Augen öffnete wusste ich kurz nicht wo ich war. Ich blieb erschrocken liegen. Irgendetwas warmes und schweres lag auf meinem Bauch. Irgendetwas hatte sich ganz dicht an mich geschmiegt und atmete gleichmäßig gegen meinen Hals. Ich hob ganz leicht meinen Kopf und schielte auf Elisabeth herunter. Sie hatte einen Arm um mich gelegt. Ich versuchte ruhig zu atmen, um sie nicht zu wecken. Auf dem Nachttisch neben mir stand eine Uhr. Ich griff blind über meinen Kopf und tastete danach. Als ich an das Holz der Uhr stieß nahm ich sie so leise wie möglich vom Tisch und sah gespannt auf das Zifferblatt. Es war kurz nach sieben, um neun Uhr würde die Kutsche kommen. Ich legte die Uhr wieder zurück. Ich musste jetzt auf jeden Fall aufstehen und so bald wie möglich zurück zu meinem Zimmer gehen. Hoffentlich waren die anderen noch nicht wach, was würden sie sagen, wenn sie mein leeres Zimmer betreten würden. Ich streifte Elisabeths Arm sanft zur Seite und schlüpfte aus dem Bett. Draußen musste ich mir das Fluchen verkneifen. Der Boden war eiskalt. Elisabeth schlief zwar noch, murmelte aber leise etwas und legte sich bequemer hin. Ich musterte sie für einen Moment. Sie war mindestens doppelt so alt wie ich und trotzdem so furchtbar schön. Meiner Meinung nach sah sie noch verdammt jung für ihr Alter aus. Sie hatte kein einziges Fältchen, ihre Haut war jung, glatt und sah total weich aus. Ich beugte mich zu ihr herunter und strich ihr sanft über die Wange. Sie war tatsächlich unglaublich weich und warm. Elisabeth murmelte wieder irgendetwas unverständliches und griff nach meiner Hand. "Hey." meinte ich leise: "Schlaf weiter. Ich muss aufstehen, unsere Kutsche kommt bald." "Warte." sagte Elisabeth schläfrig und öffnete ein Auge. "Ich muss." wiederholte ich. Elisabeth hob ihren Kopf und küsste meine Hand. Ich erschauerte. Das Bild von dem Abend an dem sie mir ihr Hemd geschenkt hatte flackerte wieder vor meinem inneren Auge auf. Damals hatte sie mir Gute Nacht wünschen wollen und ich hatte intuitiv ihre Hand gegriffen und geküsst. Sie war zurückgeschreckt, das hatte solche Panik in mir ausgelöst, dass ich einfach davongerannt war.
Jetzt ließ Elisabeth meine Hand wieder los und seufzte müde: "Ich wünschte du könntest länger bleiben." "Ich auch. Ich werde dich vermissen." "Nicht lange..." "Mm?" "Nichts." Elisabeth gähnte ausgiebig und schloss dann wieder ihre Augen. "Schlaf gut." "Danke." Sie lächelte leicht.Ich verließ das Schlafzimmer schweren Herzens. Vor dem Kamin zog ich mich um und legte ihr ihr Nachthemd wieder zusammengelegt auf das Sofa. Unsere halbvollen Teetassen standen immer noch auf dem Tisch. Wie gern wäre ich einfach dageblieben. Hätte uns Frühstück geholt. Aber ich musste zurück zum Internat, sonst würde es wieder Konsequenzen geben und ein weiteres mal wollte ich Elisabeth nicht verlieren. Außerdem konnte ich Yvette nicht im Stich lassen. Wir waren immerhin beste Freundinnen.
Ich lief so schnell ich konnte zurück zu meinem Zimmer, froh, dass alle anderen noch auf ihren Zimmern waren. Ich holte meine Koffer, richtete nochmal mein Bett und klopfte eine halbe Stunde später an Karlas Zimmer. Sie war noch nicht ganz fertig, die restliche Zeit die wir noch auf dem Schloss verbrachten half ich ihr ihre Sachen zusammen zu packen. Um kurz vor neun Uhr scheuchte uns Margot die Treppe hinunter durch die Halle und nach draußen in den Hof. Es war kühl, auf dem Boden glitzerte noch Frost, doch der Schnee war größtenteils geschmolzen. Warme Sonnenstrahlen fielen uns ins Gesicht und wir stellten uns vor der Kutsche in eine Reihe auf.Die Haupteingangstür wurde von zwei Dienern aufgestoßen und Prinz und Prinzessin kamen Arm in Arm heraus gelaufen. Wir verbeugten uns ehrfürchtig. "Es war uns eine außerordentlich große Ehre, das Wochenende auf ihrem Schloss verbracht haben zu dürfen." meinte Margot und lächelte dankbar: "Wir alle haben das Wochenende und den Ausflug ins Theater sehr genossen. Ich hoffe wir haben ihnen keine großen Umstände gemacht..." "Nein, nein." entgegnete der Prinz fröhlich: "Es war eine gute Gelegenheit, die Mädchen des Internats kennenzulernen, für die sich meine Frau so stark einsetzt. Wir sind beide der Meinung, ihr seid gute Kinder." Die Prinzessin senkte zustimmend den Kopf: "Uns war es ebenfalls eine Freude." "Wie lange werden sie noch auf dem Schloss Babelsberg bleiben?" fragte ich gespannt. Der Prinz sah mich etwas überrascht an, die Prinzessin ebenfalls, aber sie würde bestimmt bald darauf kommen worauf ich hinauswollte. "Wir werden bereits am Donnerstag gen Westen weiterreisen." Erschrocken zuckte ich zusammen, wie würde ich Elisabeth wiederfinden? Spätestens Donnerstag müsste sie sich eine neue Bleibe suchen. Ich wusste ja nicht mal genau wo ihr Bruder wohnte... "Danke." murmelte ich in Gedanken: "Für die Antwort." "Ich wünsche eine angenehme Weiterreise." meinte Margot und lächelte wieder freundlich. "Danke. Euch auch! Kommt gut im Internat an!" Der Prinz sah seine Frau auffordernd an. "Ja. Kommt gut zurück. Wir müssen jetzt wieder zurück ins Schloss. Hier draußen ist furchtbar kalt." "Vielleicht sieht man sich ja in Zukunft nochmal." Wir folgten alle Margots Signal, verbeugten uns nochmal tief und stiegen dann in die Kutsche ein.
Mit einem mulmigen Gefühl, starrte ich durchs Fenster auf das Schloss. Es wurde immer kleiner und die Distanz zwischen Elisabeth und mir größer. Bald würden wir um eine Ecke biegen und Bäume würden mir die Sicht versperren. Ich hatte Angst. Hatte Elisabeth es wirklich Ernst gemeint? Sie wusste wo sie mich finden würde. Würde sie mich aber nicht vermissen oder mich sogar vergessen, und würde sie nicht nach mir fragen oder mich besuchen, würde ich sie nie wieder sehen. Wie wollte sie Kontakt zu mir aufbauen? Briefe wurden von der Oberin und dem Fräulein von Racket gelesen, bevor sie uns ausgehändigt oder abgeschickt wurden. Einfach ins Internat spazieren und mich abholen, konnte sie doch auch nicht... Jetzt konnte ich nur hoffen, dass sie einen guten Plan hatte. Traurig wandte ich mich vom Fenster ab. Wir fuhren bereits durch das Parktor.
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HOPE OF MORNING
FanfictionPreußen, 1911 Es ist bereits einige Monate her, dass das Fräulein von Bernburg das Internat für höhere Töchter verlassen hat. Manuela schafft es langsam den Verlust ihrer geliebten Lehrerin zu akzeptieren, sie versucht sich auf die gemeinsame Zeit m...