Am frühen Abend kamen wir in Potsdam an. Der Kutscher, ein junger Mann von höchstens 18 Jahren, fuhr uns direkt zum Internat, als wir ankamen half er uns aus der Kutsche, mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck, und bat uns an unsere Koffer hinein zu tragen. "Vielen lieben Dank." meinte Elisabeth und lächelte ihn freundlich an. Ich wunderte mich wie sie so gefasst und ruhig sein konnte. Ich war irgendwie total nervös. Ich war gespannt, weshalb das Fräulein von Racket Elisabeth geschrieben hatte und natürlich war ich total unruhig, weil ich bald meine Freunde wieder sehen würde. Was würden sie sagen? Ich hatte keinen blassen Schimmer ob sie mich freudig in ihre Arme schließen oder ob sie sauer auf mich sein würden, weil ich sie verlassen und mich nie gemeldet hatte. Ich machte mir Sorgen, es sei das Letztere. "Es wird schon alles gut gehen." raunte mir Elisabeth zu und streichelte mir beruhigend über den Rücken. Ich nahm ihre Hände in meine: "Ich will nicht, dass wir getrennt werden." "Ich weiß." Sie lehnte sich an mich heran und ich konnte ihre Körperwärme durch meine Jacke spüren. "Jetzt lass uns erstmal anhören was die Oberin zu sagen hat. Dann sehen wir weiter." "Ist gut." Ich lehnte meinen Kopf kurz an ihre Schulter und sie gab mir einen sanften Kuss auf die Haare. Dann lösten wir uns wieder und ich folgte Elisabeth dem Kutscher hinterher durchs Tor. Schweigend liefen wir den restlichen Kiesweg bis zur Tür. Das Geräusch der kleinen Steine unter meinen Füßen rief wieder Bilder in mir wach, die ich für längere Zeit vergessen hatte. Die Ankunft vor eineinhalb Jahren mit meiner fürchterlichen Tante, das wöchentliche marschieren durch die Stadt, die anstrengende Gartenarbeit im Park, aber auch die Pausen mit Yvette, Ilse und Karla, in denen wir immer Arm in Arm Runden über die Wiese drehten und über Gott und die Welt sprachen. Als wir die Treppen zum Eingang emporstiegen wurden meine Knie weich. Ich hatte Angst, anders konnte man es nicht ausdrücken. Total gespannt hielt ich die Luft an. Der Kutscher klopfte.
Mit einem Ruck wurde die Türe aufgerissen. Ich zuckte zusammen. "Ja, das glaub ich ja jetzt nicht!" Vor uns erschien die Putzfrau Johanna: "Fräulein von Bernburg! Manuela! Was machen sie denn beide hier?! Das ist ja wunderbar! Sie beide hier auf einmal!" "Guten Abend." antwortete Elisabeth und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Guten Abend." schob auch ich hinterher und lugte nervös hinter Johanna ins Internatsgebäude. "Das ist aber eine Freude!" meinte Johanna und bat uns hinein. "Kommt nur, kommt nur! Ah, hier ich nehme ihnen die Taschen ab." Sie griff nach den Taschen die der Kutscher noch in der Hand hielt und erlöste ihn von seinem verlorenen Herumstehen. "Danke." Er verbeugte sich und wünschte uns einen angenehmen Abend, dann verschwand er wieder. Glücklich dem dunklen Internat und den hohen bedrohlichen Wänden zu entkommen. "Was führt sie beide her?" wollte Johanna neugierig wissen: "Wir haben noch Brot und Butter in der Küche, also falls-" "Nein, nein. Aber danke." meinte Elisabeth: "Wir haben unterwegs eine Kleinigkeit zu uns genommen. Wichtiger ist jetzt, dass ich mit dem Fräulein von Racket spreche." "Das Fräulein von Racket?" fragte Johanna verwirrt: "Sie ist auf ihrem Zimmer. Wollen sie sie wirklich um so späte Stunde noch stören?" "Es ist wichtig." meinte Elisabeth: "Sie schrieb mir ich solle in Eile herkommen, da die Mutter Oberin im Sterben läge." "Im Sterben?!" Johanna machte große Augen: "Uns hat man nur mitgeteilt sie sei an einer harmlosen Erkältung erkrankt." "Bestimmt wollte sie es geheim halten." meldete ich mich zu Wort: "Die Neuigkeiten würden sich verbreiten wie ein Lauffeuer und was dann für ein Tumult ausbrechen würde..." "Manuela hat Recht." stimmte Elisabeth zu: "Also wäre es wohl besser sie würden auch diese Information für sich behalten, liebe Johanna." "Natürlich, Fräulein von Bernburg." Johanna nickte aufgeregt: "Dann gehen sie besser ganz schnell zum Fräulein von Racket, wenn sie sie schon erwartet." "Danke." Elisabeth wendete sich zu mir: "Ich werde später nochmal mit dir reden. Jetzt begrüßt du lieber einmal deine Freunde. Sie vermissen dich bestimmt schon." Ich nickte. Wie gern hätte ich sie nochmal umarmt.
"Na dann komm, Manuela." meinte Johanna: "Die anderen Mädchen sind gerade in ihren Badesälen und duschen wahrscheinlich." "Danke." murmelte ich und lief die Treppe hinauf. Johanna gähnte hörbar und verschwand in Richtung Küche. Im Internat war es ansonsten unglaublich still. Auf den Gängen war keine Menschenseele unterwegs und nichts war zu vernehmen. Durch die Fenster sah ich wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand und wie sich der Himmel dunkellila verfärbte. Die Öllampen, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden hingen, fingen an ein angenehmes warmes Licht auszustrahlen. Leise legte ich meine Hand auf das kalte dunkle Metall der Türklinke und öffnete die Tür zu meinem alten Schlafsaal an dem die Badesäle angrenzten. Niemand war im Vorraum. Auf dem Tisch in der Mitte lagen ein paar dunkle Strümpfe die gestopft werden mussten. Der Plattenspieler daneben hielt still. Ich huschte einen Raum weiter und plötzlich hörte ich das leise Rauschen von Wasser. Im Schlafsaal brannten zwei einzige Öllampen, sie konnten den großen rechteckigen Raum kaum ausleuchten. Ich sah mich neugierig um. Irgendwie erinnerte mich die Situation daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich das erste mal diesen Raum betreten hatte. Ich hatte mich verloren gefühlt, als würde ich nicht dazugehören, als sei ich am falschen Platz. Obwohl Yvette und die anderen sich sehr bemüht hatten mich in ihre Gruppen zu integrieren und auch wirklich nett gewesen waren, kam mir doch noch alles sehr fremd vor. Ich konnte mich daran erinnern, wie verwundert ich darüber gewesen war, wie viele Schülerinnen doch in einem einzigen Raum zusammengepfercht schlafen konnten. Und dann noch auf solch unbequemen, harten Betten, bei denen man jede Feder spürte und nachts fror, da die Decken viel zu dünn waren. Daheim mit meiner Familie, als sie alle noch lebten, da hatten wir in einem großen Haus gelebt. Mit Garten, Hof und Stall. Sogar Bedienstete hatten wir gehabt, die uns beim kochen, putzen und im Garten halfen. Das Haus hatte unzählige Zimmer gehabt, die durch viele unterschiedlich lange und breite Gänge verbunden gewesen waren. Es hatte Räume ohne Wände und Türen gegeben, ebenfalls hatte es auch Türen gegeben, hinter denen nur ein Schrank oder sogar eine Wand verborgen gewesen war. Mein Zimmer war im obersten Stock unterm Dach gewesen. Nachts, wenn ich in meinem kuscheligen Bett gelegen hatte, meine beiden Plüschkaninchen im Arm, hatte ich durch ein Dachfenster hinaus in den Sternenhimmel blicken können und dann hatte ich meine Gedanken schweifen lassen und mich ganz der Fantasie hingegeben. Oder ich hatte noch spät abends am Fenster gesessen und den nächtlichen Geräuschen in der Stadt gelauscht. Damals war mein Leben schön gewesen. Damals hatte ich keine Angst, keine Zusammenbrüche und keine Alpträume gehabt. Doch dann waren meine beiden älteren Brüder und mein Vater bei einem Unfall im Wald umgekommen und meine Mutter war der Trauer verfallen. Zwei Jahre über hatte sie sie aufgefressen. Bis sie am Ende nur noch im Bett lag und schlief und nicht mehr herauswollte. Jeden Morgen, bevor ich zur Schule gegangen war, war ich zu ihr ans Bett getreten, hatte meinen Kopf sanft auf ihre Brust gelegt und nach ihrem sanften Atmen und dem Herzschlag gelauscht. Bis ich eines Tages nichts mehr hörte. Ich hatte wie hysterisch geschrien und man hatte mich von ihr wegreißen müssen. Sie war mein Ein und Alles gewesen, ich hatte sie doch so sehr geliebt! Die Schwester meiner Mutter nahm mich in ihre Obhut. Nur um sich all das zurückgebliebene Vermögen unter die Nägel zu reißen und mich für das wenigste Geld in ein dreckiges Internat zu stecken.
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HOPE OF MORNING
FanfictionPreußen, 1911 Es ist bereits einige Monate her, dass das Fräulein von Bernburg das Internat für höhere Töchter verlassen hat. Manuela schafft es langsam den Verlust ihrer geliebten Lehrerin zu akzeptieren, sie versucht sich auf die gemeinsame Zeit m...