An meiner Tür klopfte es. Ich hatte mich frisch angezogen, meine Haare nun fertig gerichtet und fühlte mich unglaublich gut. "Herein." Karla öffnete leise meine Tür und streckte ihren Kopf hindurch. Dann riss sie die Augen auf: "Manuela! Was hast du gemacht?!" Sie kam herein gesprungen und nahm sofort meine neue Frisur unter die Lupe: "Wie... Wann hast du sie dir geschnitten?!" "Gestern." murmelte ich und beobachtete genau ihre Reaktion. Sie lächelte über das ganze Gesicht: "Das sieht unglaublich aus! Wo hast du gelernt so Haare zu schneiden? Kannst du meine auch mal schneiden?" Sie wich ein Stückchen zurück und sah mich flehend an: "Oh Manuela... Es steht dir unglaublich gut! Ich würde auch gerne einmal so gut aussehen!" "Danke..." Ich fühlte wie ich leicht errötete: "Ich hatte einfach genug von meinen Haaren." "Verständlich!" Karla fasste an ihren eigenen geflochtenen Zopf: "Ich hasse meine Haare. Aber nicht nur wegen dem ständigen waschen und kämmen und flechten. Sie sind einfach so langweilig... Ich hätte auch gern mal eine interessante Frisur. Weißt du... Jeder hält mich so schon für langweilig und dumm. Ich will endlich mal einen anderen, spannenderen Eindruck machen." "Du bist keineswegs langweilig." widersprach ich ihr. "Vielleicht magst du recht haben. Aber du kennst mich auch schon besser. Würde ich interessanter aussehen, würden mich bestimmt auch viele mehr kennenlernen wollen." Sie schüttelte traurig den Kopf: "Wir leben in einer oberflächlichen Welt, Manuela. So sehr wir es auch verneinen, aber irgendwie zählt das Aussehen doch ziemlich viel." Ich wusste nicht gleich wie ich reagieren sollte. "Ich verstehe nicht." meinte Karla dann: "Wie das Fräulein uns und vor allem dich verlassen konnte. Nun schau dich doch mal an." Sie packte mich am Ärmel und zog mich zum Spiegel. Zufrieden lächelte sie und meinte: "Du siehst so schön aus, du bist so intelligent und talentiert... Du interessierst dich für tolle Sachen. Das einzige woran ich immer denke ist Essen." "Nun hör endlich auf." Ich boxte ihr streng gegen die Schulter: "Du bist genauso toll wie ich. Wir sind alle toll. Dass das Fräulein gegangen ist ist ihre Sache; Ihr Problem. Ich will eigentlich gar nichts mehr von ihr hören. Ich will sie nicht mal mehr sehen. Ich... hab keine Lust mehr mich mit ihr auseinanderzusetzen." Ich sah zur Uhr über der Tür: "Jetzt lass uns das Thema wechseln. Wir müssen gleich zum Frühstück. Wie geht es deinem Magen? Ist alles wieder in Ordnung?" "Alles bestens." Karla betrachtete mich kurz mit einem sorgenvollen Blick: "Bei dir? Du hörst dich etwas gereizt an." "Tut mir leid." bemühte ich mich: "Es ist nur... Ach komm, lassen wir es sein." Ich lief zielstrebig zur Tür: "Ich hab einen ungeheuren Hunger!"
Als wir unten im Speisesaal ankamen, saßen nur Margot und Alexandra am Tisch. Die Bediensteten stellten einige Tabletts mit Obst und Milchreis ab und verschwanden dann aus dem Saal wieder in Richtung Küche. Als Alexandra mich kommen sah, schaute sie überrascht auf und gab dann Margot ein taktisches Zeichen. Sie drehte sich daraufhin um und erstarrte. Nach ein paar Sekunden hatte sie sich gefangen und sprang von ihrem Stuhl auf: "Herr Gott! Was hast du getan!" "Manuela hat sich die Haare geschnitte..." "Ich sehe es!" Karlas stolzes Lächeln verschwand augenblicklich. Sie sank minimal in sich zusammen, doch ich straffte meine Schultern. "Was ist so schlimm daran Margot? Warum so geschockt?" Margot lief sofort rot an. "Was hast du dir dabei gedacht?!" "Ich wollte eine Veränderung in meinem Leben." gab ich ganz ruhig zu. Ich wollte selbstbewusst und erwachsen wirken: "Nirgens habe ich gehört, dass das Haare schneiden gegen eine Regel des Internats verstößt." Margot verschlug es die Sprache. "Ich schlage vor, du setzt dich jetzt einfach wieder, wir beruhigen uns alle und fangen an zu frühstücken." Ich sah zu der reich gedeckten Tafel: "Der Tag wird bestimmt noch lang werden. Wir sollten uns stärken."
Prinz, Prinzessin und Fräulein kamen nicht zum Frühstück. Ich fand es gut so. Margot meinte später wir würden sie am Mittag in der Stadt treffen. Prinz und Prinzessin hatten uns zu einem Theaterstück eingeladen. "Ein echtes Theater?" "Ja, ein echtes Theaterstück." Margot hatte keinen weiteren Kommentar zu meinen Haaren abgegeben, sondern setzte sich nun mit Karlas Aufgeregtheit auseinander. "Ich war noch nie im Theater!" Karla schob ihre Brille zurecht, hob den Kopf und starrte verträumt an die Decke: "Oh wenn ich das nur alles meinen Eltern schreibe..." "Aber warum gehen wir in die Stadt, wenn die Aufführungen für die königliche Gesellschaft immer im Stadtschloss abgehalten werden?" Alexandra hob verwundert eine Augenbraue: "Das Potsdamer Schauspielhaus ist doch eigentlich nur für die Bürger da. Ich hätte viel lieber das Schloss besucht. Ich bin früher oft daran vorbeigefahren. Es sieht sehr schön aus, aber es von innen zu betrachten, wäre natürlich etwas ganz anderes. Mein Vater erzählte mir immer von der interessanten Architektur..." "Du bist echt verliebt in die Kunst, oder?" scherzend sah ich sie an. "Ich weiß, dass dir solche Dinge nichts bedeuten." entgegnete sie ernst: "Aber würdest du nur mal diese vielen verschiedenen Baustile sehen, die Schlossgärten und die Deckengemälde... Du würdest bestimmt auch nicht mehr aus dem Staunen herauskommen." "Mir reicht die Vorstellung ins Theater zu gehen bereits voll aus." Karla lächelte glücklich. "Wie auch immer. Wir werden hier pünktlich um elf Uhr abgeholt. Bitte steht kurz vor elf im Hof. Ich erwarte, dass ihr heute für keine Probleme mehr sorgt, sonst sorge ich nämlich dafür, dass ihr aus dem Internat fliegt. Ohne Umwege." Margot schaute jedem von uns tief in die Augen, dann befahl sie uns uns zu richten.
Auf die Minute genau fuhr die Kutsche vor, die uns auch am Tag davor hergebracht hatte. Derselbe nette Mann öffnete uns die Tür, half uns hinein und fuhr uns dann durch die Stadt zum Theaterhaus. Auf der Fahrt versuchte ich Karlas aufgeregtes Geplapper zu ignorieren. Ich kam mir schlecht vor, da wir ja jetzt schon quasi gute Freundinnen waren, trotzdem war es mir in diesem Moment wichtiger mich mental auf das Aufeinandertreffen mit dem Fräulein vorzubereiten. Ich wollte mich ihr stark und unabhängig präsentieren. Ich wollte, dass sie es bereute mich so hintergangen zu haben. Wenn sie mich dann um Verzeihung beten würde, würde ich ihr die kalte Schulter zeigen.
Als es dann soweit war, war ich doch etwas nervös. Auf dem Gehweg, zwischen ein paar kahlen Lindenbäumen warteten wir auf die Ankunft der Drei. Ich hielt die Luft an. Eine große, weiß-schwarze Kutsche mit malerischen goldenen Verzierungen hielt direkt vor unserer Nase. Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete schwungvoll die Tür. Als erstes stieg der Prinz aus. Er begrüßte uns und half dann seiner Frau hinaus. Wir verbeugten uns tief und traten ein Stück zur Seite. Gespannt starrte ich auf die letzte Person die ausstieg. Sie hatte ihre Haare aufwendig geflochten, aber trotzdem hochgesteckt. Ihr schwarzer Mantel sah teuer aus. Insgesamt glich sie viel mehr einer Adeligen, als einer Lehrerin. Erleichtert stellte ich fest, dass es doch nicht so unangenehm war, als ich dachte. Das Fräulein begrüßte uns kurz und hielt sich dann die ganze Zeit an der Seite der Prinzessin. Wir liefen ihnen schweigend hinterher. Anstatt genau zu beobachten, wie das Fräulein und die Prinzessin sich zueinander verhielten, ließ ich meinen Blick über das Opernhaus und die Menschenmenge schweifen. Über dem Giebelbalken am Eingang war eine große Inschrift in den Stein gemeißelt. "Dem Vergnügen der Bürger". Hätte uns die Oberin hier gesehen; Sie hätte uns sofort eingefangen und zurück ins Internat gesperrt. Ich musste lächeln. So etwas würde mir nicht wieder so schnell passieren. Wir quetschten uns durch die Masse an Theaterinteressierten und durften dank unseres hohen Standes als Erste in den Saal. Der Prinz zeigte uns unsere Plätze und wir setzten uns. Links von mir war Karla. Sie starrte gespannt auf die laut murmelnde, in den Saal strömende Menge. Rechts hatte sich Alexandra niedergelassen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf das Deckengemälde gerichtet und seufzte kritisch: "Apollon. Gott des Lichts, des Frühlings, der Heilung und der Künste." Sie schüttelte leicht den Kopf: "Er stellt das Idealbild, des antiken, griechischen Mannes dar. Er hatte den perfekten Körper und war in allem talentiert, was Musik und Dichtkunst angeht. Hoffentlich bleibt das Theater ihm auch treu."
Das Theaterstück war eigentlichen sogar echt ganz gut. Es ging um österreichische Protestanten zu der Zeit der Gegenreformation. Soweit ich es richtig mitbekommen hatte, war es heute das erste mal, dass das Theaterstück in Potsdam aufgeführt wurde. Der Prinz meinte seine Frau hatte unbedingt herkommen wollen, nachdem es bei der Premiere in Wien größten Beifall und hervorragende Kritik erhalten hatte. In der Pause, als viele der Besucher zurück ins Foyer flüchteten, kam der Theaterleiter zu uns und dem Prinzen gelaufen. Er wollte uns persönlich Guten Tag sagen und fragen, wie uns das Stück bisher gefallen hatte. "Außerordentlich gut, Herr Delmar." antwortete der Prinz freundlich: "An manchen Stellen hat mich die Spannung richtig gepackt." "Sehr schön, sehr schön." Herr Delmar zupfte immer wieder aufgeregt an seinem Schnurrbart: "Und ihre Frau? Wie hat es der königlichen Majestät, der Prinzessin, gefallen?" "Auch gut, nehme ich an. Sie hat sich schon den ganzen Winter darauf gefreut. Tut mir sehr leid, sie ist eben mit ihrer Freundin verschwunden..." "Oh, wie schade! Ich hätte mich ihr auch gern einmal vorgestellt." Verwirrt sah ich durch den Saal. Prinzessin und Fräulein waren tatsächlich nicht mehr an ihren Plätzen. Ich biss mir auf die Lippe. Nein, ich durfte nicht weiter darüber nachdenken. "Wissen sie." meinte der Prinz schließlich: "Ich für meinen Teil bin kein so großer Freund dieser patriotischen Stücke. Auch wenn sie momentan hoch angesagt sind und die Lust auf den Dienst als Soldat unter dem Volk verstärken. Dieses Stück im Gegenteil war es wirklich wert ins Theater zu gehen." "Da haben sie Recht, eure Majestät. Ich bin mir sogar sicher, dass "Glaube und Heimat" der größte Bühnenerfolg dieses Jahr werden könnte." "Manuela." Karla zupfte an meinem Ärmel. Ich beugte mich näher zu ihr hin. "Ich glaube ich geh noch auf die Toilette bevor es weitergeht." "Warte." flüsterte ich: "Ich komm mit." Wir entschuldigten uns beim Prinzen und dem Theaterleiter und machten uns auf den Weg zu den Klos.
"Ich geh schonmal zurück." "Ist in Ordnung." Ich hörte wie Karla ihre gewaschenen Hände abtrocknete und dann aus der Damentoilette verschwand. Ich ließ mir etwas mehr Zeit. Plötzlich vernahm ich wie die Tür wieder aufgerissen wurde und zwei Frauen herein gestürmt kamen. Ich erstarrte bei ihren Stimmen und versuchte kein Geräusch zu machen. Bewegungslos blieb ich sitzen und spitzte meine Ohren.
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HOPE OF MORNING
FanfictionPreußen, 1911 Es ist bereits einige Monate her, dass das Fräulein von Bernburg das Internat für höhere Töchter verlassen hat. Manuela schafft es langsam den Verlust ihrer geliebten Lehrerin zu akzeptieren, sie versucht sich auf die gemeinsame Zeit m...