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Seit etwa einem Jahr hatte ich das Internat nicht mehr richtig verlassen können. Natürlich durften wir einmal im Monat hinaus, doch jedes Mal in Begleitung einer Lehrerin. Meistens war es das strenge Fräulein von Racket. Bei ihr mussten wir dann in einer geordneten Zweierreihe im Gleichschritt marschieren und liefen ein kleines Stückchen durch Potsdam und am Waldrand wieder zurück zum Internat. Ausflug konnte man das Ganze nicht wirklich nennen. Wie gern wären wir Schülerinnen mal frei in Potsdam umher gelaufen, hätten uns die vielen Schaufenster angeschaut, wären durch den Park und über den Markt geschlendert, hätten uns von dem bisschen Geld, das wir besaßen, ein paar Süßigkeiten gekauft. Doch das alles war nicht erlaubt. Wie es über unseren Betten im Schlafsaal stand: Wir lebten nicht, um fröhlich zu sein und uns zu vergnügen, wir lebten um zu arbeiten.

Heute war es anders. Die Kutsche in der wir saßen, war teuer. Sie war groß genug für uns vier, sogar groß genug, dass wir alle aus den beiden kleinen Fenstern rechts und links schauen konnten. Das Polster auf dem wir uns niedergelassen hatten, war weich und frisch bezogen. Das schwarze Holz roch noch leicht nach Harz und nach frischer Farbe. Aus dem Fenster beobachtete ich die Häuserreihen, an denen wir vorbeifuhren. Es war zwar noch früh, kalt und eisig, doch auf den Straßen liefen schon ein paar Leute umher. Ich sah Arbeiter auf dem Weg zur Fabrik in denen sie angestellt waren. Ein Trupp von Soldaten stand dort unter der Laterne, daneben zwei Jungen mit großen Augen. Die Kleinen hielten Zeitungen unter dem Arm, aber anstatt sie auszutragen, starrten sie die Soldaten voller Ehrfurcht und Respekt an. Von meinen größeren Brüdern wusste ich wie sehr sich die Jungen für den Krieg und die Arbeit als Soldaten interessierten. Alfred hatte schon immer Soldat werden wollen. Eines Weihnachts hatte er von Mutter eine kleine Uniform geschenkt bekommen. Bertram hatte eine Handvoll Soldaten-Holzfiguren ausgepackt. Damals lebten wir noch glücklich und vereint in Dünheim. Als dann Alfred starb und Vater nach Mühlberg versetzt wurde, änderte sich alles. Jetzt blieb mir aus meiner eigenen Familie nur noch meine Tante. Meine Tante, die wie der Mond war: Immer bleich und kalt; Und zum Glück weit weit weg.

Nach einer etwa 30 Minütigen Fahrt hörten die Häuser auf. Immer mehr Felder erschienen, kleinere Hütten standen am Wegesrand. Plötzlich fuhren wir durch ein steinernes Tor in einen Park hinein. Er war komplett zugeschneit, doch ich konnte ein paar zugefrorene Bäche und kleine Teiche ausmachen. "Das ist der Schlosspark." meinte Karla neben mir und rückte ihre Brille zurecht. "In welchem Schloss wohnt denn die Prinzessin?" "Schloss Babelsberg." Antwortete mir Margot: "Es wurde 1833 für Kaiser Wilhelm I. gebaut. Er und seine Gemahlin nutzten es oft als Sommerresidenz, aber nun wird es seltenst nur noch von seinen Nachfahren und Verwandten genutzt." "Uuui" Karla piekste mir in die Seite: "Da schau! Da ist es!" Sie klopfte mit ihrem Finger gegen die Fensterscheibe. Ich erschauderte.

Schneller als ich wollte kam die Kutsche zum Stehen. Von irgendwoher hörte ich Rufe und dann schnelle Schritte, die über den Kies eilten. Die Tür zur Kutsche wurde aufgerissen und vor uns stand ein älterer Herr in schwarzem Anzug.
"Willkommen auf Schloss Babelsberg." Er machte eine einladende Geste: "Wenn sie bitte dem Zimmermädchen folgen würden... Sie wird sie auf ihre Zimmer geleiten. Die Prinzessin erwartet sie dann um ein Uhr pünktlich zum Mittagessen."
"Raus, raus." Margot drängte uns ins Freie. "Ich werde dafür sorgen, dass ihr Gepäck auf ihre Zimmer gebracht wird." Der ältere Herr nickte uns zu und fing dann an sich freundschaftlich mit dem Kutscher zu unterhalten.Wir folgten dem Zimmermädchen.

Staunend reckten wir auf dem Weg unsere Köpfe in die Luft und saugten jedes Detail dieses wunderschönen Gebäudes in uns auf. Es war aus hellem Stein erbaut, mit vielen Türmchen und Erkern. Verschieden geformte Fenster mit interessant ausgearbeitetem Glas schmückten die Fassade. Es war kein rießiges Schloss, aber trotzdem groß und beeindruckend. Kurz wünschte ich mir, wir wären im Sommer hier und könnten das Alles in voller Pracht bewundern. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen wie schön wohl der Park gewesen wäre, ohne den ganzen Schnee, sondern mit etlichen Blumenbeeten und zurecht geschnittenen Hecken. Ich liebte die Natur. Am allerliebsten hätte ich meine eigene Hütte mitten im Grünen. Dann wäre ich immer umgeben von melodischem Vogelgezwitscher und den anderen Klängen und den Gerüchen des Waldes. Kurz nachdem ich diesen Gedankengang jedoch vollendet hatte, fiel mir wieder das ernste Gesicht und die ärgerlichen Worte der Prinzessin ein. Mir wurde wieder schlecht und ich wäre am liebsten davon gerannt. Ich war nicht nur nervös, ich hatte regelrecht Angst!

Über einen schmalen gepflasterten Weg führte uns das Zimmermädchen an einem Brunnen vorbei, ein paar Stufen hinauf, zur großen Eingangstür. Schweigend stemmte sie die schwere Tür auf und ließ uns hinein. Innen war es warm. Eine weitere Bedienstete nahm uns die Jacken ab und hängte sie in die Garderobe. "Wie das hier aussieht!" flüsterte Karla total begeistert: "Wie in meinen Träumen!" "Pssst!" Margot blickte uns wütend an. Aus ihren Augen schossen Speere: "Seid leise und benehmt euch gefälligst!" Wir nickten, konnten uns ein beeindrucktes Seufzen aber nicht verkneifen. In der Eingangshalle war die Decke unglaublich hoch. Ich hob meinen Kopf und musterte die Deckenkunst. "Wahnsinnig." murmelte Alexandra, als Margot ein Stückchen weiter gelaufen war. Verwundert schaute ich sie an. "Draußen dieser englische Neugotikstil und hier drinnen der polierte Parkett, die Fließen, die bunten Wände und Goldverzierungen. Es erinnert mich ein wenig an zu Hause..." Sie verstummte und lief schnell Margot und dem Zimmermädchen hinterher. Karla und ich folgten. "Was ist denn mit ihr los?" Karla kicherte leise: "So hab ich sie ja noch nie erlebt." "Wenn ihr mir bitte die Treppe hinauf zu den Gästezimmern folgen würdet." Das Zimmermädchen lief flink die Stufen hinauf und deutete dann den Flur hinunter: "Dieser Flügel wurde später an das Schloss angebaut. Er beherbergt fünf Gästezimmer, einen kleinen Aufenthaltsraum, zwei Badezimmer und zwei Balkone. Es ist alles hergerichtet, sobald ihnen jedoch etwas fehlt, können sie mich jederzeit rufen." "Danke. Wie kommen wir zum Speisesaal?" "Ich werde sie zur rechten Zeit abholen kommen. Frische Kleidung liegt schon bereit." Das Zimmermädchen senkte den Kopf zum Abschied, drehte sich dann erleichtert um und verschwand.

Kurze Zeit später hatten wir uns auf die Zimmer aufgeteilt und der ältere Diener hatte uns unsere Koffer gebracht. Da jeder sein eigenes Zimmer hatte, hatte ich endlich einmal Zeit für mich. Auch wenn ich Alexandra und Karla zustimmen musste, dass dieses ganze Schloss recht imposant wirkte, wäre ich doch viel lieber bei Yvette und den anderen Mädchen im Internat geblieben. Im Internat fühlte ich mich sicherer. Da wusste ich woher Gefahr drohte und welche Regeln zu beachten waren. Hier fühlte ich mich schutzlos der Ungewissheit ausgesetzt. Was würde die Prinzessin wohl von uns wollen? Was würde geschehen, wenn sie uns einzeln zu sich bat? Ich war doch so schrecklich schüchtern. Wie könnte ich ihr nur die Wahrheit erzählen, wenn sie mich mit ihren kalten Augen anstarren und genauestens beobachten würde? Ich würde in Panik ausbrechen. Vielleicht würde ich sogar in Ohnmacht fallen. Ich hatte mich im Zimmer auf den Fußboden gesetzt und starrte aus dem Fenster. Es schneite, unten, vor dem Fenster lag eine dicke Schicht Schnee. Ich verkrampfte mich. Wie einfach wäre es, das Fenster zu öffnen und hinaus zu springen. Ich könnte es überleben. Ich könnte, würde ich Glück haben, heil davonkommen und von dem Schlossgelände verschwinden. Dann würde ich zurück in die Stadt rennen und nach dem Fräulein suchen. Weit konnte sie nicht sein. Ich wusste, dass sie Verwandte oder Freunde in der Stadt haben musste. Früher war sie jeden Sonntag nach draußen in die Stadt gefahren und kam abends wieder zurück. Aber würde ich sie finden, würde sie mir überhaupt noch helfen wollen? Nach allem was ich ihr angetan hatte?

Hinter mir klopfte es und jemand öffnete die Türe: "Manuela?" Langsam stand ich auf und drehte mich um. Im Türrahmen stand Karla; "Wir gehen uns jetzt waschen. Ist alles gut mit dir?" "Natürlich." hauchte ich gequält und bemühte mich um ein Lächeln.

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