Der Tag, an dem es zu spät ist
Diesiger Nebel hing über der Nordsee. Der kleine geschützte Strand, der hinter Deich und Salzwiesen verborgen lag, wirkte grau und hoffnungslos. Gerade war Ebbe und das Meer zog sich zurück, um feuchten, welligen Schlick zu offenbaren.
Das gegenwärtige Lager der Ufermenschen lag in Deutschland und hier würde nun auch der Leichnam meiner Mutter bestattet werden. An die Reise hier her konnte ich mich kaum mehr erinnern. Wir hatten einen Portschlüssel genommen und Dora war zwei Tage lang nicht von meiner Seite gewichen. Wir schliefen im größten Haus, im Haus des Ältesten, indem auch der Leichnam aufgebahrt worden war. Im Laufe der Woche waren alle eingetroffen, die ich kannte. Lillia, Kornelia, Darius, Korbinian und Bonifazius, außerdem Mr und Mrs Weasley. Sie alle sprachen mir ihr Beileid aus und fragten mich, ob sie irgendwie helfen könnten. Aber was wollten sie schon tun. Meine Mutter lag weiß und kalt auf einer goldenen Bahre im untersten Geschoss der Hütte. Das war die einzige Tatsache, an der ich etwas ändern wollte. Aber man konnte nichts daran ändern. Es war entgültig. Wer vom Avada Kedavra getroffen wurde, war tot.
Aber Dora hatte mir helfen können. Sie hatte mir einen Zauber erklärt, mit dem man Haare wachsen lassen konnte. 'Crescere!' Am zweiten Abend hatte ich ihn angewand. So lange, bis ihr die Haare beinahe bis zur Hüfte reichten. Dann hatte ich sie gekämmt und zu einem langen Zopf geflochten. So, wie sie es bestimmt hundert und aberhundert mal bei mir gemacht hatte.
Früher hatte ich mir oft vorgestellt, wie sie mit langen Haaren aussehen würde. Ich hatte mir vorgestellt, sie wäre eine Prinzessin, die sich ihre langen Haare abschnitt, um unerkannt zu bleiben. Um sich vor bösen Mächten zu verstecken. Erfolglos. Nun lag meine Prinzessin kalt und bleich da. Die bösen Mächte hatten sie doch erwischt. Weitere Verkleidung wäre sinnlos gewesen.
Die meisten hatten überrascht reagiert. Darius hatte den Anblick nicht ertragen können. Diese Frau mit den langen blonden Haaren war die Frau, mit der er seine Kindheit verbracht hatte, in der Annahme, er würde sie später heiraten. Ich war mir ganz sicher, dass er sie geliebt hatte. Und sie hatte ihn geliebt. Aber dazu war es nicht gekommen. Er hatte ihre Schwester bekommen und sie einen Todesser. Er hatte wahrlich das bessere Los gezogen.
Und nun war sie tot und der Todesser saß in Askaban. Das war mein Schicksal. Kaum zu glauben, dass meine Welt vor etwas mehr als einem Jahr noch so heil gewesen war. Charlotte Carter und Finn Gardner. Zwei ganz normale Zauberer. Keine Ufermenschen, keine alten Reinblüterfamilien, keine Todesser und keine Morde. Ein kleine heile Familienwelt einzig getrübt durch den Tod meines Vaters. Alles Lüge und Maskerade, aber nun, wo es zu spät war, wusste ich, warum meine Mutter mir das alles vorgespielt hatte. Und ich war dankbar, dankbar für elf unbeschwerte Jahre, ehe all diese Probleme ihren Anfang nahmen.
Ich stand am Strand. Dicke Wolken verdeckten die Sonne und der Nebel waberte über das Meer. Undurchdringlich und grau. Wäre er nicht da gewesen, hätte man auch nicht viel Meer gesehen. Es war Ebbe und das hieß Watt, graues, feuchtes Watt so weit das Auge reicht. Und ich stand mittendrin. In meiner roten Trauerkleidung watete ich hinaus. Eine rote Gestalt mitten im Nebel. Wenn die goldenen Schuppen der Stelzenhäuser nicht immer mal wieder durch den Nebel blitzen würden, würde ich den Weg zurück wahrscheinlich nicht finden. Überall war Nebel, während hinter den Wolken langsam die Sonne unterging.
„Adriana?“ Mrs Weasleys Ruf hallte zu mir herüber. Sie, Mr Weasley und Dora würden sich von nun an um mich kümmern. Es war beschlossene Sache. Der letzte Wille meiner Mutter. Ich wusste, dass sie noch im Sommer mit Mrs Weasley darüber geredet hatte. Nun war der Ernstfall eingetreten. Das Sorgerecht war vor allem organisatorischer Papierkrieg gewesen. Glücklicherweise hielten mich meine neuen Sorgeberechtigten von diesem Papierkrieg bestmöglich fern. Nur einmal hatte ich mit Dora ins Ministerium gehen müssen, um irgendwelche Papiere zu unterzeichnen.
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Schwarz wie die Nacht: Misstrauen (Harry Potter Fanfiction)
RandomFür Adriana und ihre Freunde beginnt ein neues Schuljahr, während außerhalb der Schule die Morde an Halbwesen weitergeht. Wie soll das Ministerium eine Hexe fassen, die scheinbar jede Sicherheitsvorkehrung überwinden kann? Wie viele Unschuldige müss...