einsam in der Dunkelheit.

702 20 1
                                    

Mai 1789

"Marlon, komm jetzt, das Essen wird kalt!", rief meine Mutter, zerrte mich am Handgelenk in unsere kleine, dreckige Küche. Ich setzte mich an den Tisch, als sie mir mit der Holzkelle etwas Suppe in meine Schüssel tat. "Danke, Mutter.", murmelte ich halbherzig, hoffte, sie würde es ignorieren, was sie zum Glück auch tat. Sie gab meinen Geschwistern ebenfalls etwas Suppe auf und gemeinsam fingen wir an zu essen. Mal wieder saß ich schweigend da, ich war der Älteste. Ich hatte drei jüngere Brüder und vier jüngere Schwestern, die allesamt meiner Meinung nach immer viel zu gut gelaunt waren. Sie hinterfragten nicht, was geschah, wenn sie anfingen zu weinen, wurden sie getröstet, weil sie noch jung waren, wobei ich das Gefühl hatte, nur auf Leistung gedrillt zu werden. Ich hasste es so sehr, ich hasste es, so sehr auf Perfektion gedrillt zu werden, das war ich einfach nicht.

Schweigend aß ich meine Suppe, langsam, achtete auf meine Manieren, ich wollte nicht schon wieder für irgendetwas beschimpft werden. Ich saß meine Zeit ab, half meiner Mutter im Anschluss mit der Küche und dem Haushalt, wobei nicht mal Theo, der nur zwei Jahre jünger war als ich, irgendwas tun musste, wobei ich in seinem Alter schon gefühlt alles machen musste.

"Hast du deine Hausarbeiten fertig, Marlon?", fragte meine Mutter schnippisch, als ich in mein Bett gehen wollte. "Ja, Mutter.", murmelte ich leise und sie seufzte genervt. "Du sollst deutlich reden, Junge! Was soll denn dein Vater denken?!" Mit ihren Abtrocktuch schlug sie mir leicht auf den Rücken. Klar, das tat nicht wirklich weh, aber allein die Geste ließ mich schlucken. "Tut mir Leid, ja, ich habe meine Hausarbeiten fertig.", sagte ich etwas lauter, deutlicher. "Gut, dann bring bitte deine Geschwister ins Bett." Ich nickte, tat, was sie mir sagte.

Geschafft legte ich mich auf mein Bett, sah an die kaputte, schimmelige Decke, die so alt und ekelhaft war, doch wir hatten kein Geld, dass alles zu reparieren. Ich schluckte leicht, sah zur Seite, Theo, Leon und Elias schliefen anscheinend schon, wir teilten uns ein Zimmer. Tief atmete ich durch, als sich wie so oft in den letzten Wochen leichte, blasse Tränen in meinen Augen bildeten, die ich verzweifelt versuchte, wegzublinzeln. Langsam stand ich auf, schlich mich muksmäuschenstill zur Tür, ging raus in die stille, kalte Nacht, die mir in letzter Zeit so helfen konnte.

Leise schluchzte ich auf, setzte mich auf einen der kalten Steine am See und starrte auf das dunkle Wasser, in dem sich die wunderschönen Sterne widerspiegelten. Ich wischte mir über die Wangen, ich durfte nicht weinen, ich war ein Mann, keine Heulsuse, ich musste stark sein, doch ich war so schwach, so schwach und es machte mich fertig. Ich biss mir auf die Unterlippe, unterdrückte meine Tränen, atmete tief durch, stark sein, das war alles, was ich wollte.

Ich schreckte auf, als ich ein leises Räuspern vernahm. Sofort drehte ich mich um, schluckte schwer. "Hey, alles okay..", murmelte eine leise Stimme und kam näher auf mich zu. Tief atmete ich durch, wischte mir erneut über die Wangen. Ich sah, wie sich ein zierlicher, kleiner Junge mit braunen, fettigen Haaren vor mich in das Gras setzte. "Was willst du..?", murmelte ich leise, ich wollte alleine sein, niemand durfte mich so sehen, ich würde zum Gespott der Stadt werden, wenn man mich weinen sah. "Gesellschaft. Nur ein bisschen Gesellschaft.", murmelte er und sah mich an, sah in meine glasigen Augen. "Ich möchte alleine sein.", hauchte ich leise, kraftlos, lauschte der Stille, die uns umgab. "Ich weiß, wie du dich fühlst.", sagte er leise, doch plötzlich mit entschlossener, fester Stimme, die mich kurz schweigen ließ. Dann zuckte ich mit den Schultern. "Wie heißt du überhaupt?" "Julian und du?" "Marlon, aber nenn mich Luri." Er nickte leicht, sah mich an, er war wirklich hübsch. Seine dreckigen Haare hingen in seinem Gesicht, er hatte eine kleine Stubsnase und geschwungene Lippen. In seinen dunklen Augen spiegelten sich die Sterne und er hatte seine knochigen, wunden Handgelenke in seinen Schoß gelegt. Er saß im Schneidersitz, seine stark aufgeschlagenen, blauen Knie waren zu sehen, seine Waden und Schienbeine waren dreckig. Klein war er, und dünn, ich konnte ihn in der Dunkelheit nicht ganz erkennen, doch er hatte eine dieser hässlich braunen, mittellangen Hosen an, die wir alle tragen mussten und ein dreckiges, braun-weiß kariertes Hemd, dass er aus seiner Hose gezogen hatte. Normalerweise mussten wir es in die Hose stecken, um noch hässlicher und bescheuerter auszusehen, doch so wie er es hatte, sah es gut aus.

"Du weinst."
"Ich weine nicht."
"Doch, tust du."
"Ich darf nicht weinen, also nein."
"Wenn du so denkst, bist du genauso hängengeblieben wie alle anderen."
Ich seufzte auf.
"Lass mich in Ruhe.."
"Ich sag es niemandem."
"Danke.."

Lange sah er mich an, seine dunklen Augen durchbohrten mich, ließen mich unwohl fühlen. Ich schluckte. "Ich hab dich hier noch nie gesehen, bist du neu hier?", fragte ich zögerlich, spielte mit meinen Fingern herum, ich war nervös. "Nein, ich bin der Stalljunge, man sieht mich nicht oft. Ich darf nicht zur Schule gehen. Aber ist vielleicht auch besser so, ich kann lesen, also bring ich mir das alles irgendwie selber bei. Die Zeit hat man dann ja.." Ich nickte leicht. "Kannst du reiten?", fragte ich neugierig, ich konnte es nicht und ich bewunderte Leute, die es konnten, es sah immer so elegant aus. Er nickte. "Aber ohne Sattel und nur auf Pip, meinem Esel." Ein leichtes Lächeln fand den Weg auf seine Lippen, während er nebenbei mit seinen Händen das Gras vom Boden abriss, um es wieder dort hinzuwerfen, wo es herkam. Ich musste ebenfalls leicht lächeln.

"Warum bist du so spät noch draussen?"
"Kann nicht schlafen."
Er nickte.
"Und du?", fragte ich.
"Vermutlich das selbe."

Ich sah mich um, sah auf den kleinen See, auf das klare, dunkle Wasser, in den Wald, in den Himmel, sah auf die Stadt, die man von hier aus gut sehen konnte, sah zu ihm.

"Es ist echt schön hier. Wir sitzen genau zwischen Stadt und Natur."
Ich nickte.
"Bist du öfter hier?"
Erneut nickte ich.
"Dann sehen wir uns jetzt wahrscheinlich öfter." Er lächelte, stand auf, drehte sich um und ging durch das kleine Gebüsch wieder in Richtung Stadt.

Leicht lächelnd sah ich ihm hinterher.

forbidden love. [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt